Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Mutter machte Gretl aus diesem Wunsch eine Sache von Prinzip und Stolz. »Schmuck kauft man nicht, Schmuck hat man«, pflegte sie zu sagen. Die Übertragung auf Annelore demonstrierte den nach wie vor bestehenden Reichtum der Gallias und ihre Fähigkeit, die stärksten wirtschaftlichen Krisen zu überstehen. Weihnachten für Annelore während der Weltwirtschaftskrise, das bedeutete 47 Tage Geschenke, und am letzten Tag Perlen.
Die beste Gelegenheit für Gretl und Annelore, die Wohllebengasse zu verlassen, kam, als Gretls Tante Ida 1929 starb, fast fünf Jahre nach ihrem Ehemann Adolf. Da die beiden keine eigenen Kinder gehabt hatten, teilten sie ihr Vermögen unter ihren Neffen und Nichten auf. Wer am wenigsten begünstigt war, erhielt ein Zweiundvierzigstel des Nachlasses, aufgrund des Reichtums von Adolf und Ida immer noch eine bedeutende Summe. Am meisten bekam Gretl, der sie zwei Einundzwanzigstel hinterlassen hatte, da Ida und sie einander besonders nahegestanden waren: Ida hatte das Gefühl, Hermine habe Gretl nach deren Scheidung von Paul schlecht behandelt, und wollte die 35-jährige Gretl in die Lage versetzen, sich eine eigene Wohnung mieten zu können. Aber Frau Herschmann-Gallia, wie sich Gretl nun immer öfter nannte, wagte das nicht.
Bald wurde ihre Vormundschaft über Annelore zum Thema, da der Scheidungsvertrag mit Paul ihr Annelore nur bis zu deren siebtem Lebensjahr überließ; das war ein Arrangement, das in vielen Ländern galt, da die absoluten Ansprüche der Väter nun aufgrund der Annahme, Mütter sollten während der »empfindlichen Jahre« der Kinder für sie sorgen, hintangestellt wurden. Anne war der Meinung, Paul habe kein Interesse daran gehabt, dass sie bei ihm lebte. Die meisten Männer seiner Generation gaben sich kaum mit kleinen Kindern ab und hatten keine Ahnung, was sie mit ihnen anfangen sollten. Zudem hatte Paul niemanden, der Annelore während seiner Arbeitszeit betreuen konnte. Nach Idas Tod war Paul aber der Ansicht, die Erbschaft, die Gretl gemacht habe, rechtfertige eine Neufestsetzung der Unterhaltszahlungen, und drohte, sein Recht auf Annelore geltend zu machen. Anstatt es darauf ankommen zu lassen, akzeptierte Gretl, dass die Alimente herabgesetzt wurden.
Pauls Besuche bei Annelore in der Wohllebengasse wurden durch Hermine kompliziert, die ihm verbot, den Haupteingang des Gebäudes zu benutzen, nicht nur um sicherzugehen, dass sie ihm nie mehr begegnete, sondern auch, um ihn zu demütigen. So wie sie Gretl zwang, ein Zimmer neben dem Hauspersonal zu beziehen, so ließ sie Paul jetzt über die Dienertreppe gehen und verbannte ihn ins Erdgeschoß. Als Annelore noch klein war, besuchte er sie in dem Schlafzimmer, das sie mit Gretl in der Wohllebengasse teilte, später ging er meist mit ihr aus. Ihre Tagebücher zeigen, dass sie Paul im Sommer 1932, während sie in Altaussee war, zweimal schrieb und ihn nach der Rückkehr nach Wien jede Woche oder jede zweite Woche sah, im Jahr darauf aber weit weniger.
Was unternahm ein geschiedener vierzigjähriger Vater mit seiner zehnjährigen Tochter bei solchen Ausgängen im Wiener Herbst und Winter 1932 und im Vorfrühling 1933? Er besuchte mit ihr vier Filme und kaufte ihr immer die Programme, die sie ins Tagebuch einklebte. Zweimal ging er mit ihr zu Gerstner, der alten Hofzuckerbäckerei in der Kärntner Straße im ersten Bezirk. Zweimal besuchte er mit ihr Mitglieder seiner Familie, zweimal den Zirkus, einmal gingen sie in den Park und einmal spazieren. Sollte er sie in seine eigene Wohnung in der Gredlerstraße mitgenommen haben, dann hat sie es nicht aufgeschrieben. Und falls er ihr erzählte, dass sein Bruder Bernhard im Dezember 1932 in der Nervenheilanstalt am Steinhof gestorben war (dorthin würde sie kommen, hatte Gretl sich vorgestellt, wenn sie Norbert Stern heiratete), dann hatte Annelore das ebenfalls nicht notiert.
Ihre schönste mit Paul in Zusammenhang stehende Erinnerung hatte mit Goethes »Faust« zu tun: Sie lernte das Stück 1933 kennen, als Gretl sie in eine gekürzte Fassung des Salzburger Marionettentheaters mitnahm. Als die Elfjährige darauf nach der Rückkehr nach Wien Goethes Text lesen wollte, traf wie üblich Hermine die Entscheidung. Da Faust das schöne junge Gretchen verführt, worauf sie schwanger wird und ihr Kind tötet, entschied sie, Annelore sei zu jung – worauf natürlich Paul zusammen mit Annelore »Faust« las (aber die Gretchen-Geschichte wegließ). Das war für ihn eine Sache der
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