Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
einem Entwurf Mussolinis. Nach außen hin war es ein Stück über die hundert Tage zwischen Napoleons Flucht von der Insel Elba und seiner Niederlage in der Schlacht von Waterloo; Forzano und Mussolini hatten es indes als Stellungnahme zur zeitgenössischen Politik gedacht, als Unterstützung der autoritären Politik Italiens. Als das Burgtheater das Drama in Wien zur Aufführung brachte, unterstrich die Inszenierung noch die Angriffe auf die parlamentarische Demokratie, sodass »Die hundert Tage« die Diktatur der Christlichsozialen rechtfertigte, indem Verfassungstreue als kontraproduktiv bezeichnet wurde, wenn sie dem Regieren hinderlich war.
Ihre erste direkte Erfahrung mit Nazitumulten machte Annelore bei einer Nachmittagsvorstellung des Burgtheaters Ende 1936 oder Anfang 1937. Nach ihrer Erinnerung war sie allein, da Gretl wegen Hermine in Trauer war und nicht mitgehen konnte. Als ein Nazi im Publikum eine Stinkbombe warf, hätte die Vierzehnjährige allen Anlass gehabt, sich zu fürchten. Die Vorstellung wurde unterbrochen, das Publikum drängte zum Ausgang. Doch Annelore dachte nicht daran, den Leuten zu folgen, sondern nutzte die Gelegenheit, dass sie unbeaufsichtigt war, und beobachtete »fasziniert«, wie die Bühnenarbeiter den Vorhang hochzogen, den Hintergrundprospekt entfernten und ihr so »einen wunderbaren Blick auf die Bühnenmaschinerie« gewährten.
Dass sich die Familie nicht für Politik interessierte, wurde besonders offenkundig, als Gretl Annelore in der Staatsoper mit dem Werk Wagners bekanntmachte. Nach »Lohengrin« 1933 sahen sie 1934 Moriz’ Lieblingsoper »Die Meistersinger von Nürnberg«, 1935 »Parsifal«, »Götterdämmerung« und »Der Fliegende Holländer« und 1937 ein zweites Mal »Die Meistersinger«. Für Mutter und Tochter gehörte das zur Familientradition; in den dreißiger Jahren allerdings hatten diese Opern eine neue Funktion: Für die Nazis stand Wagner im Einklang mit ihrer Ideologie. »Wachet auf!«, der von Hans Sachs gesungene Choral, der Luther und die Reformation begrüßen soll, bildete für die Nazis einen dröhnenden Ruf zu den Waffen. »Die Meistersinger« waren dasjenige Werk, das Hitler bei seinen wichtigsten Parteiveranstaltungen aufführen ließ. 1937 schrieb sein Propagandaminister Joseph Goebbels Wagner das Verdienst zu, die Deutschen darüber aufgeklärt zu haben, dass Juden »Untermenschen« seien.
Besonders verlockend war die zweite »Meistersinger«-Aufführung, die Annelore besuchte, wegen des Gastdirigenten Wilhelm Furtwängler, den die Gallias bereits 1922 erlebt hatten, als er erst zum zweiten Mal in Wien aufgetreten war, und zwar bei einem Konzert zum 25. Todestag von Johannes Brahms. Sehr begeistert von Furtwänglers »herrlicher« Leistung, kauften sie das im selben Jahr veröffentliche erste Buch über ihn. Ein Jahrzehnt später war Furtwängler einer der berühmtesten Musiker der Welt, als Dirigent überstrahlt nur noch von Toscanini. Gretl, Käthe und Annelore wussten vielleicht, dass Furtwängler Mut bewiesen hatte, als er öffentlich gegen die Vertreibung jüdischer Musiker wie Bruno Walter protestierte, was Goebbels zu dem Ausspruch bewog: »Es gibt überhaupt keinen dreckigen Juden mehr in Deutschland, für den sich Herr Furtwängler nicht eingesetzt hätte.« Anders als viele deutsche und österreichische Kulturschaffende war Furtwängler nicht der NSDAP beigetreten, doch war er den Nazis zu Diensten, da er bei vielen ihrer wichtigsten Veranstaltungen dirigierte, beginnend mit der »Meistersinger«-Aufführung zu den Feiern anlässlich der Errichtung des »Dritten Reichs« 1933.
Furtwängler behauptete später, er habe keineswegs nach der Pfeife der Nazis getanzt; nur die Musik sei seine Herrin gewesen. Sogar seine Interventionen, um jüdische Musiker zu beschützen, seien symbolisch für seine Hingabe an die hohe Kunst gewesen. Doch Goebbels erklärte diese Haltung zur Unmöglichkeit, als er einen offenen Brief an Furtwängler schrieb und behauptete, dass die Musik in Deutschland politisch sei. Furtwängler musste auch erkannt haben, dass seine Handlungen auf jeden Fall politisch waren, ob er nun die Nazis kritisierte oder bei den ihnen wichtigen Veranstaltungen dirigierte, waren doch die größten klassischen Musiker in den 1930er Jahren wie eh und je Objekte der Anbetung und Verherrlichung. Wäre Furtwängler Toscaninis Beispiel gefolgt und hätte er sich geweigert, nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland zu
Weitere Kostenlose Bücher