Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
anstelle des gewählten Sozialdemokraten zum Wiener Bürgermeister ernannt hatte, und abgeschlossen von Dollfuß. Am Nachmittag beobachtete Annelore die triumphale Prozession, die durch die Stadt zog, und fotografierte sie von einem Balkon an der Ringstraße.
Elisabeth Luzzatto, die nach wie vor regelmäßig in die Wohllebengasse zu Besuch kam, war eine jener Familienbekanntschaften, die sich Mitte der dreißiger Jahre vehement gegen die Christlichsozialen stellten. Will man Annelore glauben, waren die Gallias politisch ganz anders eingestellt. Obwohl sie dem Festakt zur Einführung der neuen österreichischen Verfassung gezwungenermaßen beiwohnen musste, beschrieb sie den Ablauf als unterhaltsam, ein choreografiertes Ereignis, das man genießen konnte wie irgendeine andere gelungene Aufführung. Den Vormittag im Stadion fand sie »ganz wundervoll«. Ihr Foto des Festzugs lässt noch mehr Interesse vermuten.
Das hatte auch damit zu tun, wie Dollfuß es mit den Juden hielt. Der Antisemitismus gehörte zwar zur christlichsozialen Ideologie, doch Dollfuß verfolgte keine Juden, versuchte sie vor den Angriffen der Nazis zu schützen und entschied sich, den Antisemitismus nicht für populistische Zwecke zu nutzen. Diese Haltung war den Gallias besonders wichtig, da es ihnen unmöglich war, ihrer Herkunft zu entgehen, wie an einem Meldezettel erkennbar wurde, den Gretl ausfüllte. Sie musste zwar angeben, dass sie innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde geboren war, konnte aber nirgendwo anführen, dass sie seit über dreißig Jahren der römisch-katholischen Kirche angehörte.
Zwölf Wochen nach den Maifeiern war Dollfuß tot, ermordet von Mitgliedern der verbotenen österreichischen NSDAP im Zuge eines Putschversuches im Juli 1934. Während der dreitägigen Kämpfe gab es mehr als 250 Tote, mehr als die Hälfte auf Regierungsseite, doch das Bundesheer blieb loyal und konnte den Aufstand niederschlagen. Als Annelore im Jahr darauf die nächste von den Christlichsozialen im Stadion veranstaltete Maifeier besuchte, war der Ablauf mehr oder minder derselbe wie 1934, außer dass sie diesmal mit einer Ansprache des neuen Kanzlers Kurt von Schuschnigg endete, gefolgt von einer Schweigeminute für Dollfuß. Zum Andenken an das Ereignis kaufte Annelore eine Postkarte von der Veranstaltung im Stadion.
Eine seltene Gelegenheit, politische Ereignisse mit kritischen Augen zu betrachten, ergab sich für Annelore, als der italienische Diktator Benito Mussolini, ein enger Verbündeter von Dollfuß und Schuschnigg, seinen lange geplanten Eroberungsfeldzug gegen Abessinien 1935 startete. Während die internationale Gemeinschaft Sanktionen überlegte, bemerkte Annelores Geografielehrer: »Es herrscht Krieg gegen Abessinien, und Österreich verhält sich neutral und ist Italien gegenüber freundlich gesonnen; überlegt, was das bedeutet.« Die darauffolgende Diskussion lehrte Annelore, dass »neutral« und »Italien freundlich gesonnen« einander ausschlossen und dass man das, was Politiker sagten, analysieren musste.
Die Salzburger Festspiele waren mehr als ein kulturelles Ereignis. Ab 1920 versuchten sie, eine eigene österreichische Identität wenn nicht zu schaffen, so doch zu stärken. Diese politische Dimension wurde 1933 noch unterstrichen, als die Festspiele in den Mittelpunkt des Konflikts zwischen der neuen Nazi-Regierung in Deutschland und den Christlichsozialen rückten. Hitler tat den ersten Schritt und beraubte die Festspiele vieler ihrer Zuschauer, da er deutschen Österreich-Urlaubern eine eigene Steuer auferlegte und deutsche Künstler am Auftreten hinderte. Viele Österreicher, allen voran Dollfuß, reagierten mit einem Besuch der Festspiele, die zu einem Symbol der österreichischen Unabhängigkeit wurden. Nach einem Bericht »strömten die Leute, die Österreich in seinem Kampf gegen den Nationalsozialismus zu unterstützen wünschten und denen Mozart möglicherweise gleichgültig war, nach Salzburg«. Gretl war Mozart zwar ganz und gar nicht gleichgültig, aber ihr müssen die politischen Hintergründe bewusst gewesen sein, als sie Annelore in diesem Jahr ihre ersten und einzigen Festspiele erleben ließ.
Das Burgtheater, das auch in der jungen Republik eine staatliche Institution blieb, wurde unter der christlichsozialen Regierung ebenfalls zunehmend politisch. Die parteiischste Inszenierung, die Annelore sah, war das Stück »Die hundert Tage«, verfasst vom italienischen Dramatiker Giovacchino Forzano nach
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