Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
dirigieren, hätte er ihre Legitimität untergraben können. Da er für sie auftrat, unterstützte er sie.
Die Aufführung mit Furtwängler, an die sich Anne erinnerte, war das zweite von zwei Konzerten – das erste 1936, das zweite 1937 –, die sie besucht hatte und bei denen er im Großen Saal des Musikvereins Beethovens Neunte Symphonie dirigiert hatte. Wegen Furtwänglers Prominenz waren die Karten außergewöhnlich teuer. Obwohl es Anne normalerweise egal war, wo sie saß, erinnerte sie sich, dass sie ganz vorne gesessen war, so nahe bei Furtwängler, dass seine Schweißtropfen auf ihr Programm sprühten. Dieses Erlebnis ließ sie den Wunsch äußern, als 2001 »Der Fall Furtwängler« nach Ronald Harwoods Stück herauskam, den Film zu sehen.
Wie Gretl begann Annelore ihre erste Ballsaison mit fünfzehn Jahren, doch sie ging nicht zu Hausbällen, sondern zu öffentlichen. Jahrelang hatte Gretl sie auf diesen Moment vorbereitet und gehofft, sie würde auf dem Tanzparkett ebenso viel Vergnügen finden wie sie selbst. Mit fünf oder sechs Jahren hatte sie erste Tanzstunden erhalten, als sie dann ins Gymnasium ging, bei Elmayer, der nobelsten Tanz- und Benimmschule Wiens; in den Räumlichkeiten nahe der Spanischen Hofreitschule im ersten Bezirk wurden jüdische Schülerinnen und Schüler getrennt von den anderen unterrichtet. 1937 konnte Annelore Walzer, Foxtrott und Tango tanzen.
Georg Schidlof, Annelores häufigster Partner in dieser Ballsaison, stammte aus einer weit ärmeren jüdischen Familie; wieder ein Zeichen dafür, dass die Gallias Hermines Ansprüchen nicht mehr genügten. Annelore kannte Georg, da seine Mutter Lizzi die letzte Gouvernante der Zwillinge gewesen war und der Familie auch danach verbunden blieb. Georg wurde ihr Begleiter, weil die Mütter das so arrangiert hatten, nicht weil es eine Romanze zwischen den beiden gegeben hätte. Gretl hatte einen jungen Mann gesucht, der Annelore begleiten konnte, und sich an Lizzi gewandt, da der neunzehnjährige Georg im passenden Alter war und als Offiziersanwärter im österreichischen Bundesheer (er leistete eben seinen Militärdienst) einen entsprechenden Status besaß. Kurz vor Beginn der Saison schenkte Georgs Vater ihm eine Galauniform, sodass er die Bälle mit Stil besuchen konnte.
Annelores Kleid war ebenfalls ein Weihnachtsgeschenk von Käthe, die das beste Auge dafür hatte, was ihre Nichte sich am meisten wünschte, und auch die Mittel, es zu erfüllen. Das Kleid war nicht rosa oder rot, wie es Hermine wiederholt ausgesucht hatte, sondern weiß mit blauen Samtschleifen. Es war Annelores erstes Stück wienerischer Haute Couture, geschneidert von den Schwestern Hilde und Fritzi Berger, die auch Textilien und Postkarten für die Wiener Werkstätte entworfen hatten. Käthe, die eine Serie von Fritzis Aquarellen gekauft hatte, ging mit Annelore in den Salon der Schwestern am Rathausplatz, dort kaufte sie viele ihrer besten Kleidungsstücke.
Annelores neue Aufmachung führte zu einer fünften Fotositzung mit Jobst, diesmal nicht im Atelier, sondern in Gretls Wohnung in der Landstraßer Hauptstraße. Auf einem Porträt sitzt Annelore auf einem Sofa, das Kleid um sich gebreitet, die Haare hochgesteckt (wie es bei Oberschülerinnen Mode war); sie trägt immer noch die Perlen wie auf den Fleischmann-Fotos und starrt streng in die Kamera. Auf einem anderen steht sie am Fenster, zieht den Vorhang zurück und blickt lächelnd über die Schulter. Auf dem dritten sitzt sie in einem Armsessel neben der weiß-goldenen Hoffmann-Vitrine, das Kleid über die Armlehnen gebreitet, auf dem Gesicht ein rares verträumtes und zufriedenes Lächeln. Anne erinnerte sich mehr als fünfzig Jahre später, dass die beiden letzten Fotos ihre Stimmung gut getroffen hatten. Sie ging gerne aus, und sie liebte ihr neues Kleid.
Nach Annes Ansicht waren die Fotos Ende 1937 aufgenommen worden, bevor sie ihren ersten Ball besucht hatte; das Kleid sei ganz neu gewesen. Ein von Gretl in Wien zusammengestelltes Album verrät allerdings, dass die Bilder aus dem März 1938 stammen, vom Ende der Saison. Die unterschiedlichen Daten sind bedeutsam. Im Dezember 1937 war Österreich noch unabhängig, wenn auch unter enormem Druck durch Hitler, der erklärte, er könne das Geschick der Deutschen außerhalb des Reichs nicht außer Acht lassen. Im März 1938 annektierte er das Land seiner Geburt. Die Fotos von Annelore in ihrem Ballkleid sind die letzten vor dem »Anschluss« aufgenommenen.
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