Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Sie scheinen das Unwissen anzudeuten, das so viele Österreicher jüdischer Herkunft über das hatten, was ihnen drohte. Da sitzt meine Mutter im prächtigsten ihrer Kleider, eine Debütantin, die anscheinend nur ans Tanzen denkt, während die Nazis den Einmarsch vorbereiten.
Annelore im Ballkleid in der Landstraßer Hauptstraße; im Hintergrund die Hoffmann-Vitrine. März 1938.
Eine von Annes eigenen Geschichten bestärkt diesen Eindruck. Sie handelte vom alljährlichen Pfadfinderball, bei dem Georg und sie die Polonaise tanzten, die jeden Ball eröffnete. Da Georg im Gymnasium Pfadfinder gewesen war, konnte er es arrangieren, dass sie ins Eröffnungskomitee kamen. Es war üblich, dass diese Paare im Programm aufgeführt wurden, doch Georg und Annelore standen nicht drin. Weit davon entfernt, sich darüber Gedanken zu machen, war Annelore zu »sorglos und glücklich«, um sich den Kopf zu zerbrechen. Erst später realisierte sie, dass man Georg und sie weggelassen hatte, weil sie Juden und die Nazis bereits so mächtig waren, dass sie kontrollierten, wer auf dem Programm stand.
Unterdessen schwankte Schuschnigg, ob er den Forderungen der Nazis nachgeben oder sie zurückweisen sollte. Bei seinem Besuch auf Hitlers Berghof bei Berchtesgaden Mitte Februar hatte er zugestimmt, den Führer der österreichischen NSDAP, Arthur Seyß-Inquart, als Innenminister in sein Kabinett zu holen. Nicht ganz zwei Wochen später verkündete Schuschnigg, er wolle um jeden Preis Österreichs Unabhängigkeit bewahren und den Nazis gegenüber keine Konzessionen mehr machen. Diesmal sprach er ausnahmsweise leidenschaftlich und kraftvoll, die Massen auf der Ringstraße stimmten in einem Ausbruch von Nationalgefühl die alte Kaiserhymne an, und Schuschnigg erntete Hochrufe, wo immer er sich zeigte.
Zwei Tage danach war Annelore in der Oper, um sich eine Neuinszenierung der Oper »Dalibor« von Smetana anzusehen, wieder ein Beispiel für eine Überschneidung von Kultur und Politik. Dirigent war Gretls Jugendidol Bruno Walter, dessen Beschäftigung an der Wiener Oper, nachdem Hitler seine Auftritte in Deutschland verboten hatte, als Symbol dafür gewertet wurde, dass die Christlichsozialen nichts gegen Juden hätten. Als Schuschnigg vor dem Beginn des zweiten Aktes in seine Loge trat, erhielt er stehende Ovationen vom Publikum; als er nach dem Schluss der Vorstellung zu einer festlich gestimmten, optimistischen Schar im Foyer stieß, ließ man ihn neuerlich hochleben. Annelore konnte Schuschnigg von ihrem Sitz aus nicht sehen, doch sie war so beeindruckt von der Reaktion des Publikums, dass sie es in ihrem Konzertbuch vermerkte.
Ihrer Erinnerung nach hatte sie sich weniger vor Hitler als vor seinen jungen, mit ihr etwa gleichaltrigen österreichischen Anhängern in der Hitlerjugend und im Bund Deutscher Mädchen gefürchtet. Als diese jungen Nazis zunehmend aggressiver wurden, reagierten einige jüdische Studenten in Wien, indem sie sich ähnlich auffällige Gewandungen zulegten. Der Schriftsteller George Clare, der 1938 sein letztes Schuljahr absolvierte, behauptete, wenn er »weiße Kniestrümpfe, einen schwarzen Regenmantel und einen Tirolerhut« trug, also ganz die Kleidung, in der sich die Nazis gern zeigten, dann habe das seine Bereitschaft zum Kampf signalisiert. »Ich trug sie aber nicht in der Absicht, das Jüdische in meinem Gesicht zu kaschieren«, schrieb Clare, »sondern als einen Ausdruck meiner eigenen Militanz, meiner Bereitschaft zum Kampf.« Annelore tat dasselbe, aus anderen Gründen. Sie erinnerte sich: »Ich wollte so aussehen wie die anderen, auch die Nazis, ich wollte ihre Dirndl und weißen Stutzen kopieren und hoffte mich dadurch einzufügen und unauffällig zu wirken.«
Annelore, die Gretl überredet hatte, sie die Schule wechseln zu lassen, weil der Frauen-Ewerb-Verein so antisemitisch geworden war, gehörte zu den wenigen Wiener Juden und Jüdinnen, die erkannten, dass es Zeit war zu fliehen. Als die Gallias Anfang 1938 ein Angebot zum Verkauf des Hauses in der Wohllebengasse erhielten, flehte sie Gretl an, es anzunehmen und mit dem Ertrag zu emigrieren. Aber der Verkaufspreis war niedrig, und wie andere Wiener jüdischer Herkunft hatte Gretl gute Gründe zu bleiben. Sie hing unendlich an Wien, ihre nächsten Verwandten und die meisten ihrer Freunde waren hier. Nach achtzehn Monaten in der Landstraßer Hauptstraße ohne Hermine und Käthe konnte sie sich nichts Besseres vorstellen, als dort zu bleiben, und so
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