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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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eines ihrer Urlaube ohne Annelore Anfang der dreißiger Jahre in Italien kennengelernt hatte, seitdem mit ihm in regelmäßigem Kontakt geblieben war, was es plausibel erscheinen ließ, ihn um Hilfe zu bitten. Die Umschläge enthüllten auch, dass Gretl Osborn von Annelores kindlichem Interesse an Briefmarken erzählt hatte, so wie Eduard Bonyhady Hannes Höller von der Sammlung seiner Jungen berichtete, und dass Osborn ebenfalls diesen Enthusiasmus förderte. Der Inhalt war seit langem verschwunden, doch die Umschläge gehörten zu jener Kette von Beziehungen, die Gretl, Käthe und Annelore Hoffnung auf ein Entkommen gaben.
    Offiziell war nach dem »Anschluss«, wie so oft in Flüchtlingsfragen, viel von der Notwendigkeit des Anstellens und von geordneten Abläufen die Rede; jeder werde zu seiner Zeit an die Reihe kommen, alle würden nach denselben Kriterien beurteilt. Wie üblich aber gab es mehr Durcheinander als Ordnung, da die Flüchtlinge ihre Beziehungen nutzten, um ihre Chancen zu verbessern, und die Behörden ihre eigenen Anordnungen umgingen oder nicht beachteten. Wie sich Anne erinnerte, wandte sich Gretl an drei Personen um Hilfe. Eine war eine Amerikanerin deutscher Abstammung, die mit Gretl korrespondierte, seit sie dreißig Jahre zuvor als junge Mädchen Brieffreundinnen geworden waren. Ihre Antwort lautete, die österreichischen Juden bekämen bloß, was sie verdienten. Die zweite war Osborn, ein Regierungsbeamter in Manila mit guten Beziehungen, dessen anfängliche Antwort vage ausfiel, obwohl er bald wieder schrieb, er habe Visa für sie beschafft. Die dritte war Eugénie Luke, die österreichische Witwe eines englischen Geschäftsmannes, die Hermine nahegestanden war.
    Gretl hätte sich gerne auf diese Freundschaft bezogen, denn Mrs. Lukes Sohn Harry war in einer noch besseren Position als Osborn, um zu helfen. Gretl hoffte, dass Sir Harry Luke, wie er seit 1933 hieß, seine Stellung als hochgestellter britischer Diplomat nutzen würde, um ihnen britische Visa zu verschaffen. Doch Großbritannien hatte erklärt, es sei »kein Einwanderungsland«; die Regierung war nur an Juden interessiert, die dem Vereinigten Königreich Vorteile brachten – und das waren sehr wenige. Juden mit internationalem Ruf als Wissenschaftler, Ärzte, Forscher oder Künstler, etwa Sigmund Freud, bestanden den Test, ebenso erfolgreiche Industrielle mit Unternehmen, die sie ins Königreich verlegen konnten. Andere Flüchtlinge, darunter Gretl, Käthe und Annelore, waren unerwünscht. Einige höherrangige britische Diplomaten versuchten zwar, britische Visa für Juden zu beschaffen, die nicht die Anforderungen der Regierung erfüllten, andere, wie Sir Harry Luke, nutzten ihren Einfluss, um ihnen anderswo welche zu besorgen. Dass Gretl, Käthe und Annelore nach Australien gehen sollten, das, seitdem es 1788 eine britische Strafkolonie geworden war, als Einwanderungsland galt, war möglicherweise Sir Harrys Idee.
    Australien zeigte sich eher dazu bereit, europäische Juden aufzunehmen, als andere ehemalige britische Kolonien wie Kanada, Neuseeland und Südafrika, doch es war keineswegs großzügig. Das nationale Ideal, ein weißes Australien, beruhte auf rassischer Homogenität. Die Bevölkerung war nach manchen Zählungen zumindest zu 97, wenn nicht 98 Prozent britisch, und die Regierung wollte, dass das auch so blieb. Britische Migranten wurden durch Beihilfen für die Überfahrt gefördert, nichtbritische, die niemanden in Australien hatten, der eine finanzielle Garantie hätte abgeben können, durften nur einreisen, wenn sie 200 Pfund vorweisen konnten und eine Beschäftigung ergreifen wollten, die keinem Australier einen Arbeitsplatz wegnahm. Als infolge des »Anschlusses« etliche Hundert österreichische Juden, die das nötige »Landungsgeld« besaßen, um australische Visa ansuchten, fürchtete die Regierung, binnen eines Jahres würden 20.000 einreisen, und setzte ein jährliches Limit von 5100 fest. Man behauptete aber weiterhin, dass man nicht aufgrund der Nationalität, Rasse oder Religion diskriminiere, solange die Antragsteller weiß seien. So wie man sich weigerte, anzuerkennen, die Juden, die vor Hitler flohen, seien »Flüchtlinge«, so instruierte man die Beamten, die Restriktionen als »Quoten« zu bezeichnen.
    Bis zum Juni hatte Australien einen solchen Überhang an Antragstellern, dass die Regierung den britischen Generalkonsul anwies – er vertrat die australischen Interessen in Wien –, er solle alle

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