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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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neuen Bewerber warnen, die Aussichten auf Erfolg seien gering. Bei der internationalen Konferenz über jüdische Flüchtlinge, die auf Initiative von Präsident Roosevelt im Juli im französischen Evian stattfand, war Australien eines von vielen Ländern, die sich weigerten, größere Anstrengungen zu unternehmen. Es unterstrich, es könne einer »bestimmten Gruppe nichtbritischer Staatsbürger« – Juden, denen Verfolgung drohte – »keine ungerechtfertigten Privilegien einräumen, ohne anderen Unrecht zu tun«, und erklärte, in Australien gebe es »kein wirkliches Rassenproblem«, und man habe nicht den Wunsch, »sich eines ins Land zu holen«. Ein vertrauliches Regierungsdokument bemerkte, es gebe zwar »im Augenblick keinen Grund zur Besorgnis« über die Zahl der Juden in Australien (sie betrug ein Drittelprozent der Gesamtbevölkerung), doch müsse man diese Zahl »sehr genau beobachten«.
    Unter den Juden, die Mitte des Jahres 1938 um Visa kämpften, waren nicht nur Österreicher und Deutsche, die vor Hitler Schutz suchten, sondern auch Polen, die vor staatlicher Verfolgung die Flucht ergriffen. Von den 500 Anträgen, die die australische Regierung jede Woche erhielt, wurde bloß ein Zehntel bewilligt. Gretl, Käthe und Annelore hatten Glück, dass die Regierungsstellen Deutsche und Österreicher bevorzugten, nicht nur, weil ihre Fälle als dringlicher galten, sondern auch, weil man annahm, sie würden sich leichter in die australische Gesellschaft einfügen als die Polen, die als »minderwertigere Typen« angesehen wurden. Nach einer Reise durch Europa verglich ein hochrangiger australischer Beamter die Polen mit den australischen Ureinwohnern und qualifizierte sie als die »miesesten Exemplare abgesehen von den schwarzen Kerlen« ab.
    Die australischen Kriterien für die Entscheidung, ob Visa vergeben wurden oder nicht, hatten mit dem Alter, den Qualifikationen, dem Beruf und dem Vermögen der Antragsteller zu tun. Käthe hatte hier gute Karten, da sie unter vierzig war, einen Universitätsabschluss besaß und beinahe zehn Jahre die Graetzin-Licht-Gesellschaft gemanagt hatte. Gretl war in einer viel schlechteren Position – und so auch Annelore als von ihr Abhängige: Gretl war 42, hatte keinen akademischen Abschluss und nie gearbeitet. Doch sie genoss die Unterstützung von Sir Harry Luke, der in Kürze britischer Hochkommissar der Westpazifik-Territorien und Gouverneur der Fidschi-Inseln werden sollte. Meist brauchte die australische Regierung vier Monate, um über Anträge zu entscheiden, die Gallias jedoch hatten ihre Einreisebewilligung »ganz schnell«, wie Anne sich erinnerte, nachdem Sir Harry an seinen »Repräsentanten in Australien« geschrieben hatte. Mitte August wussten sie, dass die Sache positiv entschieden werden würde, Anfang September hatten sie ihre Papiere.
    Dazwischen traf Osborns Brief ein. Laut Anne hatte er ihnen Visa für die Philippinen besorgt, 1938 zwar noch amerikanisches Territorium, das aber die Einwanderung eigenständig regelte und sehr großzügig gegenüber jüdischen Flüchtlingen war. Ihre Pässe zeigen jedoch, dass die Visa tatsächlich für die USA ausgestellt waren, wo der Kongress zwar gegen Maßnahmen zur Unterstützung für jüdische Flüchtlinge war, doch Präsident Roosevelt ihnen behilflich war, indem er die jährliche Quote für Österreicher – sie betrug weniger als 1500, offensichtlich viel zu wenig – zur deutschen Quote – sie betrug 26.000 und wurde nicht ausgeschöpft – dazuzählte. Anfang September stellte der amerikanische Konsul in Wien Gretl, Käthe und Annelore Visa mit einer zwölfmonatigen Laufzeit aus, »gültig für alle Häfen der Vereinigten Staaten«.
    Wie andere Flüchtlinge, die berufstätig gewesen waren, brauchte Käthe noch zusätzliche Dokumente. Der erste Schritt für Flüchtlinge, wie in einem zeitgenössischen Bericht beschrieben, bestand darin, ihre ehemaligen Universitäten und Arbeitgeber aufzusuchen, »um die Kopie eines Diploms oder eines Zeugnisses zu betteln, dreckiger Jude geheißen und stehen gelassen zu werden, einmal, zweimal, dreimal, bevor endlich mit weiteren Beschimpfungen das Dokument – an dem jegliche Zukunftshoffnung hing – überreicht wurde«. Dann mussten die Dokumente am Konsulat beglaubigt werden, eine riskante Sache, weil die in der Schlange Wartenden oft von Nazis angepöbelt wurden. Da Gretl und Käthe sich immer noch nicht sicher waren, welche Visa sie in Anspruch nehmen würden, ließ Käthe

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