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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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zeigte einen der zwei sechs Meter hohen Adler mit einer Flügelspannweite von sieben Metern, die auf den zwei Türmen an der Luitpold-Arena saßen, wo die Nazis ihre Aufmärsche abhielten. Höller schickte die Karte an Eduard, der inzwischen Visa für die Vereinigten Staaten zu beschaffen versuchte. Höller schrieb: »Von dem großen Erleben hier sowohl Ihnen und Ihrer Familie viele Grüße!« Die zweite Karte, sie zeigte einen Aufmarsch der SA vor Hitler, ging an Erichs Bruder Friedrich, mit »besten Grüßen aus Nürnberg«.
    Die letzte Karte, sie zeigte drei Mitglieder der Hitlerjugend, kam aus dem Sudetenland, dem deutschsprachigen Teil der Tschechoslowakei, auf den Hitler in Nürnberg Anspruch erhob. Schon bevor Großbritannien und Frankreich im Münchner Abkommen vom 30. September zugestimmt hatten, waren viele Gebiete unter der Kontrolle der nazifreundlichen Freikorps. Die Karte war eine von wenigen aus dieser Zeit. Auf dem Poststempel, geschmückt mit dem auf einem Hakenkreuz sitzenden Naziadler, datiert vom 21. September 1938, als die Tschechoslowakei dem Druck Englands und Frankreichs nachgegeben hatte, das Sudetenland aufzugeben, stand der Text: »Wir haben das Joch getragen, nun sind wir frei und bleiben frei!«
    Als ich diese Karten betrachtete, fiel mir auf, dass keine an die Gallias adressiert war oder einen Wiener Stempel trug. Eduard Bonyhady hatte eine abgesandt, Hannes Höller fünf geschickt oder mitgebracht, weitere fünf trugen den Stempel Graz, wo die Bonyhadys lebten. Am wahrscheinlichsten war, dass alle von den Bonyhadys kamen, die die Karten von Höller und ihre eigenen aufgehoben hatten. Warum? Ihre Postkartensammlung von den Olympischen Spielen in Berlin ließ vermuten, dass sie gerne Karten hatten, die an besondere Ereignisse erinnerten. Vielleicht hatten sie entschieden, die Lust Erichs und Friedrichs aufs Briefmarkensammeln sei wichtiger als die politische Bedeutung dessen, was sie aufbewahrten. Vielleicht wollten sie einen Anschein von Normalität wahren und ließen die Jungen das sammeln, was für die meisten Österreicher die begehrtesten Poststempel und Briefmarken waren. Sie hörten erst auf, als die Nazis in der »Reichskristallnacht« die Hauptsynagoge in Graz zerstörten und Eduard verhafteten; als Gefangener Nummer 23.486 traf er am 12. November in Dachau ein.

Annelores Exemplar von »Der ewige Jude«, das sie vor ihrer Abreise aus Wien im November 1938 kaufte, um niemals an Heimweh zu leiden.
    Das einzige Stück Nazi-Propaganda, das meine Mutter besaß – ein Buch, das sie mir manchmal zeigte und worüber sie sprach –, war etwas ganz anderes: »Der ewige Jude«, eines der wüstesten antisemitischen Nazi-Pamphlete. Die 128 Seiten, üppig illustriert mit 265 Fotos, begannen mit einer Darlegung über die Herkunft der Judennase und endeten mit einem Angriff auf den Zionismus. Dazwischen wurden Juden als verlogen, schmutzig, verdorben, heimtückisch und mordlustig hingestellt. Das Bild auf dem Umschlag, das auch auf Transparenten, Plakaten und Postkarten Verwendung fand, zeigte einen »Ostjuden« im Kaftan, in einer Hand eine Peitsche, in der anderen Goldmünzen, dazu eine Landkarte mit Hammer und Sichel unter dem Arm, eine Figur, so bedrohlich durch ihren Bolschewismus wie ihre Habgier. Die roten Buchstaben des Titels waren so gestaltet, dass sie an hebräische Schriftzeichen erinnerten.
    Die Ausstellung, auf der das Buch beruhte, war im November 1937 in München eröffnet worden. In den zwölf Wochen darauf hatten sie fünftausend Personen pro Tag gesehen; die Gestapo war hochzufrieden, da der Antisemitismus angestachelt und zu Angriffen auf jüdische Geschäfte aufgereizt wurde. Als sie im August 1938 in Wien zu sehen war, gab es einen noch stärkeren Zustrom. Das Buch war inzwischen ein Bestseller. Als Annelore es kurz vor ihrer Flucht kaufte, waren bereits 100.000 Stück abgesetzt, zusätzliche 30.000 waren im Druck. Sie wollte ein Exemplar, um niemals Heimweh oder Nostalgie nach Österreich zu verspüren; sie wollte sich daran erinnern, dass Österreich ein Land war, das zu verlassen sie sich glücklich preisen konnte.
    Die Briefmarkenschachtel enthielt auch zwei Ersttagsbriefe von den Philippinen, die mir wegen ihres Absenders ins Auge fielen: John W. Osborn, ein Amerikaner, den Gretl in der Visasache um Hilfe gebeten hatte, nachdem Käthe 1938 aus dem Gefängnis in der Hahngasse entlassen worden war. Diese Umschläge ließen vermuten, dass Gretl, die Osborn während

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