Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
ihre Qualifikationen von Briten wie Amerikanern beglaubigen.
Noch mehr Unterlagen von den Flüchtlingen verlangten die Nazis, bevor sie sie gehen ließen. Viele hatten mit Finanziellem zu tun, da den Nazis daran gelegen war, dass die Juden das Land mit so wenig Geld wie möglich verließen. Sie mussten nachweisen, dass sie alle Forderungen des Staates erfüllt hatten, darunter Einkommen-, Erbschafts-, Wohnbau-, Miet-, Wohlfahrts- und Ausreisesteuer, real wie fiktiv. Das absurdeste Dokument war eine Bestätigung des Wiener Polizeipräsidenten, dass die Ausreise freiwillig erfolge. Es begann damit, dass die Wiener Juden Schlange stehen mussten, um die notwendigen Formulare bei den quer durch die Stadt verstreuten Ministerien, Behörden und Ämtern zu ergattern. Dann mussten sie sich anstellen, um sie einzureichen, während »Arier«, die etwas von den Behörden wollten, immer Vortritt hatten. Da die meisten Bewilligungen nur einen Monat lang gültig waren, mussten die Flüchtlinge oft erkennen, dass das erste Dokument bereits abgelaufen war, wenn sie das angeblich letzte hatten, und dass sie wieder von vorne anfangen mussten.
Im August 1938 vereinfachte der SS-Offizier Adolf Eichmann diese Prozedur, als er die Zentralstelle für Jüdische Auswanderung ins Leben rief; dort konnten Mitglieder der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde die nötigen Bewilligungen erhalten, die alle für dieselbe Zeitspanne gültig waren. Eichmanns Stelle befand sich im Palais Rothschild, ein Symbol dafür, wie die Nazis sogar die reichsten Wiener Juden schikanierten; allerdings ermöglichte es diese Behörde nicht nur den Nazis, sich rascher jüdisches Vermögen anzueignen, sondern auch den Wiener Juden, leichter zu entkommen. Wegen ihrer Konversion hatten Gretl und Käthe diese Möglichkeit nicht. Sie mussten entweder versuchen, sich selbst die Dokumente zu beschaffen, oder sich der »Aktion Gildemeester« anvertrauen, die der holländische Quäker Frank van Gheel Gildemeester zusammen mit den Nazis gegründet hatte, um die Ausreise von ehemaligen Mitgliedern der Kultusgemeinde zu beschleunigen. Diese Aktion, durch die Gildemeester reich wurde, die aber auch das Entkommen von Tausenden weniger begüterten Flüchtlingen erleichterte, wurde durch das Vermögen von etwa hundert wohlhabenden Familien gespeist, deren Flucht dadurch ebenfalls beschleunigt wurde. Da die Nazis den Flüchtlingen eine strenge Devisenkontrolle auferlegten, unterwarf sich Käthe der Aktion Gildemeester, um das Landungsgeld aufzutreiben, das für die Einreise in Australien nötig war. Sie erinnerte sich, eine »maßlose Summe« bezahlt zu haben, um diese 200 Pfund zu erhalten.
Die Schweiz hatte ein neues Gesetz zu verantworten, das die Abreise von Gretl und Annelore noch mehr erschwerte. Nach der Annexion Österreichs durch Deutschland bestand der einzige Vorteil für österreichische Juden darin, dass es ein Abkommen zwischen Deutschland und der Schweiz gab, wonach die Bürger ohne Visa hin und her reisen durften. Da die österreichischen Juden nach dem »Anschluss« deutsche Staatsbürger geworden waren, konnten sie also auf dieser Basis in die Schweiz einreisen. Nachdem so an einem Tag 47 Personen nach Basel gekommen waren, protestierte die Schweiz gegen diese »Überflutung« und widerrief das Abkommen mit Deutschland, bot dann aber an, die Visapflicht auf deutsche und österreichische Juden zu beschränken, aus deren Pässen müsse aber klar erkennbar sein, dass es sich um Juden handle. Umgehend forderten die Nazis alle Juden auf, ihre Pässe abzugeben; sie erhielten dafür deutsche Pässe, die auf der Vorderseite mit einem großen roten J gestempelt waren.
Da Käthe sich bereits Anfang September einen deutschen Pass geholt hatte, in den ihr amerikanisches Visum eingeklebt war, musste sie bloß diesen Pass noch mit dem J stempeln lassen, um der neuen Bestimmung zu entsprechen. Gretl und Annelore aber hatten die amerikanischen Visa in ihrem österreichischen Pass und mussten sich erst neue, deutsche Pässe besorgen. Dann gingen sie wieder ins amerikanische Konsulat, wo sie zu ihrer Erleichterung sahen, dass die mit Osborns Hilfe beschafften Visa übertragbar waren.
Letztlich wählten Gretl, Käthe und Annelore dann doch Australien, da Erni, Mizzi und Mizzis Schwester Fini fest entschlossen schienen, dorthin zu gehen. Anne meinte sich zu erinnern, eine Attraktion Australiens habe auch darin gelegen, dass es so weit weg war. Ihrer Annahme nach waren sie darauf
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