Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
keine Ahnung, was sie alles besaß, bis mein Vater mit einer Schachtel nach Canberra kam, in der sich die Sammlungen befanden, die Annelore und er in Österreich als Kinder begonnen und dann in Sydney als Teenager und Erwachsene weitergeführt hatten. Die Schachtel war ein Geschenk für meinen Sohn Nicholas, der eben mit dem Sammeln begonnen hatte, aber zuerst sollte ich alles durchgehen, so wollte es Eric. Ich entdeckte, warum, sobald ich begonnen hatte. Drinnen lagen ein Dutzend Nazi-Postkarten. Wer, wollte ich sofort wissen, hatte diese Karten gekauft? Warum wollten sie sie haben? Ich dachte, Anne oder Eric würden sich erinnern, da mir diese Karten in ihrer Sammlung ziemlich zu schaffen machten. Doch auch auf mein Drängen hin wussten sie nicht viel zu sagen, höchstens, es habe mit ihrer Begeisterung fürs Briefmarkensammeln zu tun gehabt, wenn sie sich solche Karten zugelegt hätten. Als ich dieses Buch zu schreiben begann, wollte ich mehr herausfinden. Ich wollte wissen, welche Karten Erich – so hieß mein Vater als Junge – und welche Annelore gesammelt hatte.
Die älteste Karte erinnerte an den Beginn von Hitlers Herrschaft in Deutschland am 30. Jänner 1933, dem die Nazis den dramatischen Namen »Machtergreifung« verliehen, obwohl Präsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte. Die Sepiafotografie mit ominösen roten Farbelementen zeigte den von Goebbels mit dem üblichen Pathos arrangierten Umzug, der am Nachmittag von Hitlers Ernennung begonnen und bis nach Mitternacht gedauert hatte; Zehntausende SA- und SS-Mitglieder waren mit brennenden Fackeln durch das Brandenburger Tor zur Reichskanzlei marschiert. Darunter stand: »Deutschland, Deutschland über alles! 30.1.1933«. Der Poststempel war vom 30. Jänner 1934, dem ersten Jahrestag von Hitlers Ernennung. Die Karte war nie abgeschickt worden und zeigte nichts, was auf den Käufer hinwies.
Die nächste Karte bejubelte den Autobahnbau, den die Nazis vor allem als Mittel zur Arbeitsbeschaffung bewarben; die Arbeitslosen der Wirtschaftskrise hatten dadurch wieder Arbeit bekommen, ursprünglich durch Zwangsmaßnahmen. Die Karte zeigte Hitler beim Spatenstich der ersten Autobahn von Frankfurt nach Mannheim am 23. September 1933. Sie erinnerte an die Eröffnung von siebzehn Streckenabschnitten beinahe auf den Tag genau drei Jahre später, was die Strecke auf beinahe eintausend Kilometer Länge anwachsen ließ. Sie stammte von Erichs Vater Eduard Bonyhady, der mit seinem Vater Salomon einen kleinen Lederwarenhandel betrieb. Salomon kümmerte sich um das Büro und das Geschäft in Graz, während Eduard in Österreich, Deutschland und Frankreich unterwegs war und Häute kaufte und verkaufte. Von einer solchen Reise hatte er die Karte aus München an seine Frau Edith geschickt.
Der Sprachenmix auf der Nazi-Karte war bemerkenswert. Eduard begann auf Deutsch: »Meine liebe Edith!«, und setzte dann auf Hebräisch fort: »Ad me’ah shanah« – bis auf hundert Jahre, ein traditioneller jüdischer Gruß, der oft an Geburtstagen benutzt wird, um jemandem ein langes Leben zu wünschen. Dann kam er wieder aufs Deutsche zurück: »Bin in München gut angekommen. Jetzt war ich in der Stadt spazieren und in ½ Stunde geht es nach Strasbourg. Herzliche Grüße und Küsse Dir, den Kindern und allen Lieben. Dein Eduard.« Das Datum war der 3. Jänner 1937, als bereits einer von Eduards Brüdern aus Deutschland nach London und ein anderer mit seiner Frau nach Graz geflohen war, wo sie, beinahe mittellos, bei Salomon wohnen mussten.
Die dritte Karte feierte den »Anschluss«; sie zeigte ein Hitler-Bild auf der neuen Landkarte Mitteleuropas, auf der Deutschland und Österreich vereint waren. Der Text auf der Vorderseite enthielt das Datum der Annexion, 13. März 1938, und den Nazi-Slogan »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. Hinten waren drei Poststempel, doch die Karte war nicht abgeschickt worden. Auf einem stand »Graz 10.IV.38«, das bedeutete, dass sie von den Bonyhadys stammte. Auf dem Stempel, ebenfalls datiert vom 10. April, hieß es noch einmal »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«, besonders bedeutsam, weil an diesem Tag die Volksabstimmung, die Hitler zur Bekräftigung des »Anschlusses« durch die Österreicher ausgerufen hatte, abgehalten wurde. Auf den zwei anderen Poststempeln hieß es: »Am 10. April dem Führer dein Ja!«
War der Kauf der beiden früheren Karten schon überraschend gewesen, so diesmal noch mehr, da die Lage der Bonyhadys
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