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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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aus gewesen, sich so weit von Hitler zu entfernen wie nur möglich, obwohl dieser Aspekt ihnen vielleicht erst positiv erschien, nachdem der Zweite Weltkrieg begonnen hatte und Hitlers militärische Stärke beinahe unbegrenzt schien. Als Käthe und Annelore den Gründungsdirektor der Wiener Sängerknaben, Rektor Schnitt, besuchten – der Einzige ihrer Bekannten, der je in Australien gewesen war –, half er ihnen gerne, obwohl sie jüdischer Herkunft waren; nicht nur riet er ihnen zu Sydney, er verfasste auch ein Empfehlungsschreiben an die exklusivste katholische Mädchenschule, die die Gesellschaft vom Heiligen Herzen Jesu (Sacré-Cœur) in Rose Bay betrieb.
    Ich sehe Annelore, wie sie sich nach dem »Anschluss« vor den täglichen Kränkungen und Beleidigungen in ihrer Schule in der Albertgasse fürchtet. Ich stelle mir vor, dass sie wegbleiben möchte, um den Belästigungen und Schikanen zu entgehen. Sie muss Gretl bestürmt haben, sie manchmal daheimbleiben zu lassen, ja sogar aus der Schule zu nehmen. Als im September das neue Schuljahr begann, gab es keine Wahl mehr. Annelore konnte nicht in die Albertgasse zurück, da der Ausschluss der Kinder, die die Nazis als jüdisch definierten, endgültig wirksam wurde. Als jüngst getaufte fromme Katholikin hätte sie sich wohl geweigert, jene einzige Wiener Mittelschule zu besuchen, die von den Nazis für jüdische Kinder vorgesehen war, selbst wenn es dort sicher gewesen wäre. Wie die meisten anderen Kinder jüdischer Herkunft blieb Annelore zuhause, »endlose Tage, die auszufüllen waren, und mit nichts zu tun«, wie sie es beschrieb.
    Viele andere Flüchtlinge verbrachten ihre letzten Tage in Wien mit Fremdsprachenunterricht. Gretl musste das nicht tun, war sie doch von einer Reihe Gouvernanten, Schullehrern und Hauslehrern in Englisch unterrichtet worden und hatte exzellente Kenntnisse. Auch Käthe hatte diesen Unterricht genossen, ihr Englisch war ebenfalls gut. Eines ihrer Geburtstagsgeschenke 1908 – mit Hermines Widmung auf Englisch »To my darling twins« – war »A Little Mother« gewesen, eine 294-seitige Kindergeschichte, von der Hermine offensichtlich annahm, ihre neunjährigen Töchter würden sie sich vorlesen lassen, wenn schon nicht selber lesen. Annelores Englisch war ebenfalls beachtlich, wie eines ihrer Schulübungshefte von 1936 beweist. Über einen Londoner Polizisten schrieb sie: »The so-called Bobby is everyone’s friend. He is very kind, but that does not mean that he can not look sharp after transgressors. Little children und prams or bewildered persons, all are directed by his up-lifted hand.«
    Viele andere Erwachsene und Halbwüchsige, die fliehen wollten, absolvierten auch Kurse in Fertigkeiten wie Backen, Perlenfädeln, Wurstmachen, Maschineschreiben und Stenografie. Die Männer, die solche Kurse besuchten, waren üblicherweise berufstätig und hatten Qualifikationen, die außerhalb Österreichs nicht anerkannt wurden; sie mussten umschulen, damit ein anderes Land sich überzeugen ließ, sie aufzunehmen. Die Jugendlichen wiederum suchten oft nur nach einer Beschäftigung als Ersatz für den Schulbesuch. Zu ihnen gehörte auch Annelore; sie lernte, wie man Spitzen reinigt, eine spezialisierte Beschäftigung, die in Wien, allerdings nicht in Australien, noch gefragt war.
    Ihre Lehrerin war Anni Wiesbauer, die zunächst für Hermine, später für Gretl und Käthe gearbeitet hatte. Die Nazis erlaubten zwar der Israelitischen Kultusgemeinde, Umschulungskurse für ihre Mitglieder zu organisieren, so wie es die Quäker für die Konvertiten taten, doch wenn jemand wie Anni auf eigene Faust unterrichtete, sah das anders aus. Da sie einer Jüdin half, wie Annelore es in der Nazi-Terminologie nach wie vor war, konnte Anni als »Volksfeind« gebrandmarkt werden. Sie war besonders angreifbar, weil ihre Assistentin Reserl Nationalsozialistin war und sie anzeigen hätte können; trotzdem half Anni gerne. Ihr Angebot, Annelore zu unterrichten, war das einer ergebenen Angestellten gegenüber einer langjährigen Herrschaft. Es war das einer frommen Katholikin gegenüber einer jüngst Übergetretenen, das einer kinderlosen Frau in mittleren Jahren, die Annelore ihr ganzes Leben lang gekannt hatte. In Annelores letzten Monaten in Wien sah sie Anni beinahe jeden Tag.
    Anni wie Anne hatten an diese gemeinsame Zeit ähnlich intensive Erinnerungen. Für Anni war Annelore eine jüngere Schwester, eine kleine Kameradin, eine Seelenverwandte. Anne wiederum

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