Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
sich seit dem »Anschluss« so sehr verschlechtert hatte. Die ganze Familie war betroffen, schließlich schikanierten die Nazis Juden in Graz ebenso wie in Wien. Am meisten hatte der 77-jährige Salomon zu leiden. Als Vorstandsmitglied der Chewra Kadischa, der jüdischen Bestattungsgesellschaft, in Graz muss ihm die Entweihung des jüdischen Friedhofs wie ein persönlicher Angriff vorgekommen sein. Schon nach wenigen Tagen saß er in einem Polizeigefängnis, wo die Nazis die führenden Mitglieder der Gemeinde vierzehn Tage lang verhörten und demütigten. Wie alle österreichischen Juden durften sich die Bonyhadys an der Volksabstimmung am 10. April nicht beteiligen.
Auf den nächsten beiden Karten war ein Bild Hitlers als »Führer und Reichskanzler« zu sehen sowie eine Ansicht des Semmering, der beliebten Sommerfrische unweit von Wien, wo mein Vater drei oder vier Sommer vor dem »Anschluss« in einer von einer jüdischen Familie betriebenen Pension verbrachte, wo es koscheres Essen für Glaubensgenossen gab. Beide Karten trugen den Stempel 20. April 1938, Hitlers 49. Geburtstag, und die Legende »Geburtstag des Führers«, einer von mehreren Feiertagen, den die Nazis sofort auf den österreichischen Kalender setzten. Beide waren in Graz abgestempelt, kamen also wieder von den Bonyhadys, und waren nicht abgeschickt worden.
Die sechste Karte war anlässlich des Staatsbesuchs aufgelegt worden, den Hitler Italien abgestattet hatte, um für seine Gebietsansprüche in der Tschechoslowakei Unterstützung zu suchen. Auf der Vorderseite waren Hitler und Mussolini abgebildet, dazu die deutsche und die italienische Flagge und eine auf der Erdkugel aufgepflanzte Stele in Hakenkreuzform, zur Feier von sechzehn Jahren der Herrschaft Mussolinis in Italien. Auf der Rückseite befanden sich drei italienische Poststempel: Rom, 3. Mai, Neapel, 5. Mai, Florenz, 9. Mai; die Daten, an denen Hitler diese Städte besucht hatte. Die Karte war an meinen Vater Erich adressiert und trug den schlichtesten aller Texte: »Beste Grüße, Hannes Höller.« Als ich Eric danach befragte, erklärte er, dass Höller den Lederhandel der Familie arisiert hatte, noch während Eduard dort arbeitete. Höchstwahrscheinlich war Höller im Gefolge Hitlers, das drei Sonderzüge füllte, nach Italien gefahren. Während die Enteignung seines Lederhandels Eduard dazu bewog, um australische Visa anzusuchen, lässt die Karte mit der Erinnerung an Hitlers Italien-Besuch vermuten, dass die Beziehungen zwischen Höller und Eduard relativ gut waren. Höller mag natürlich die Karte geschickt haben, um seine Nähe zu den Mächtigen zu demonstrieren, aber er muss Eduard gut genug gekannt haben, um zu wissen, dass dessen beide Söhne begeisterte Briefmarkensammler waren. Und die Bonyhadys müssen ihm nahe genug gestanden sein, dass er ihnen dabei behilflich war.
Eine weitere Postkarte feierte Graz als stärkste österreichische Bastion der Nazis in Österreich vor dem »Anschluss«. Im Februar davor hatten sie bei einem Fackelzug von 15.000 Personen ihre Stärke unter Beweis gestellt. Nachdem sie die österreichische Fahne vom Rathaus heruntergerissen und durch die Hakenkreuzflagge ersetzt sowie die Fensterscheiben vieler jüdischer Geschäfte eingeworfen hatten, während die Polizei zusah, bemerkte ein britischer Korrespondent, Graz wirke wie eine deutsche Nazistadt. Doch der Aufruf zu einem Putsch verhallte, als Schuschnigg einen Panzerzug sowie Bomberflugzeuge nach Graz entsandte. Die Nazis konnten bloß Anfang März einen Umzug von 5000 Braunhemden auf die Beine stellen.
Die Karte, die die Bonyhadys gekauft hatten, trug den Datumsstempel 25. Juli 1938, der vierte Jahrestag des Nazi-Putschversuchs von 1934, bei dem Dollfuß ermordet, die Christlichsozialen aber nicht gestürzt worden waren. Die Nazis feierten den Jahrestag in Graz, die Mariensäule wurde mit rotem Stoff und dem Hakenkreuz verkleidet; darauf stand der Text: »Und ihr habt doch gesiegt.« Eine große Menge feierte, und Funktionäre verkündeten, Hitler habe Graz für seine starke Unterstützung der Nazis vor dem »Anschluss« geehrt. Die neue Bezeichnung, die auf die Karte der Bonyhadys gestempelt stand, lautete »Stadt der Volkserhebung«.
Vier weitere Karten kamen im September aus Nürnberg, der »Stadt der Reichsparteitage«. Hannes Höller, der 1938 zur österreichischen Abordnung gehörte, schrieb zwei Karten an die Bonyhadys und kaufte zwei weitere für sie. Die erste, die er schickte,
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