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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Franz, der Ende 1937 als zweiter der Brüder Herschmann geheiratet hatte, in regelmäßigem Kontakt stand. Ein Jahr darauf wurde Franz am Morgen nach der »Kristallnacht« in Wien verhaftet, nach einigen Wochen aber wieder freigelassen. 1939 flüchtete er ohne seine jüngst angetraute Frau. 1941 oder 1942 waren Paul und er in Graulhet, einer kleinen Stadt in der Region Tarn, etwa sechzig Kilometer von Toulouse, einem Zentrum der Gerberei. Höchstwahrscheinlich hatte Paul durch seine langjährige Tätigkeit im Lederhandel dorthin Kontakte, besonders unter den vielen jüdisch-französischen Familien, die in der Gerberei beschäftigt waren.
    Die »Endlösung«, der Massenmord der Nazis an den Juden, der sie als Rasse auslöschen sollte, brachte Paul und Franz in tödliche Gefahr. Anstatt die Juden aus ihrem Territorium zu vertreiben, wie sie es in Österreich getan hatten, oder zur Ausreise zu zwingen wie in Belgien, bereiteten die Nazis nun den Völkermord vor. Damit beauftragt war der SS-Funktionär Adolf Eichmann, der in Wien die Zentralstelle für jüdische Auswanderung gegründet hatte. Im Juni 1942 verlangte er, Frankreich solle alle auf seinem Territorium befindlichen Juden ausliefern. Die Vichy-Regierung weigerte sich zwar, die französischen Juden zu deportieren, kam dem Verlangen jedoch bei fast allen ausländischen nach; sie begann mit denen, die sich bereits in französischen Internierungslagern befanden; dazu kamen viele weitere, die bei Razzien aufgegriffen worden waren.
    Ab Juli begannen die Züge mit den Juden mit der Regelmäßigkeit, die die Nazis forderten, dreimal wöchentlich vom wichtigsten Durchgangslager der Vichy-Regierung im Pariser Vorort Drancy aus zu rollen. Jeder Konvoi transportierte etwa tausend Juden, meist Männer, Frauen und Kinder, in versiegelten, stockfinsteren Güterwaggons. Die Fahrt dauerte normalerweise fünf Tage. Die Menschen in den Waggons bekamen weder Essen noch Wasser. Ihr Ziel war Südostpolen, das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, auch als Birkenau oder Auschwitz II bekannt, wo zwei Bauernhöfe zu Gaskammern umgebaut worden waren.
    Die größte Razzia im Tarn fand am 26. August statt; die Vichy-Polizei nahm dabei 200 deutsche, österreichische, russische, polnische, belgische und holländische Juden fest. Paul konnte entkommen, doch Franz wurde verhaftet. Binnen eines Tages oder zwei war er in Drancy, am 9. September auf dem Transport. Als er am 14. Auschwitz-Birkenau erreichte, zögerten die wartenden SS-Leute nicht lange. Sie selektierten weniger als einen unter zwanzig für harte Arbeit und holten Zwillinge heraus, an denen die Ärzte dann ihre Experimente durchführten; mit Erwachsenen über vierzig verfuhren sie wie mit Babys und Kindern: Beinahe alle wurden in die Gaskammern geschickt. Der 44-jährige Franz wurde zusammen mit 974 anderen der 1017 Insassen seines Konvois vergast.
    In den ersten zwei Jahren der Vichy-Regierung schwieg die katholische Kirche über deren Behandlung der Juden. In der zweiten Jahreshälfte 1942 jedoch meldeten sich etliche Priester zu Wort. In einem Hirtenbrief, der am 23. August in den meisten Kirchen seiner Diözese verlesen wurde, erinnerte der Erzbischof von Toulouse, Jules-Gérard Saliège, seine Herde: »Die Juden sind Männer. Die Jüdinnen sind Frauen ... Nicht alles darf man ihnen antun ... Sie gehören zum menschlichen Geschlecht.« In einem weiteren Brief, der nach der Razzia, bei der Franz festgenommen worden war, in jeder Pfarre des Tarn verlesen wurde, erklärte Bischof Pierre-Marie Théas: »In Paris erhielten die Juden eine Behandlung, die an Barbarei grenzt. Sogar in unserer Gegend sind wir Zeugen eines verstörenden Dramas: Familien werden entwurzelt, Männer und Frauen wie wilde Tiere behandelt und an unbekannte Orte geschickt, wo die schlimmsten Gefahren auf sie warten. Ich erhebe hiermit meine Stimme für einen empörten Protest des christlichen Gewissens.« Als die Kirche diese Prinzipien in die Tat umsetzte, Männern und Frauen jüdischer Herkunft Unterschlupf gewährte, ihnen falsche Identitäten, Essen und Geld verschaffte, fand Paul in einem Kloster in Graulhet Zuflucht. Später beschrieb er es so: »Unter dem Pétain-Regime war man ständig in Lebensgefahr, aber die Franzosen waren hilfsbereit und menschlich und haben viele gerettet.«
    Pauls Bruder Gustav, sein Partner im Familien-Lederhandel, hatte 1938 kaum eine Chance zu entkommen, da er von einem Motorrad niedergestoßen und schwer verletzt worden

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