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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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19.000, darunter nur 150 von 15.000 Kindern. Friedrich wurde für den Transport selektiert, da er Tuberkulose hatte, doch eine Frau ohne Familie nahm freiwillig seinen Platz ein, sodass er bei Helene und Jana bleiben konnte. Als Theresienstadt 1945 befreit wurde, waren sie noch alle am Leben, das seltene Beispiel einer Kernfamilie, die das Konzentrationslager überlebt hatte.
    Hermines jüngster Bruder, Paul Hamburger, genoss etwas mehr Schutz, da seine Frau Fely »arisch« war. Nach der Vorgangsweise der Nazis wurden jüdische Männer, deren nichtjüdische Frauen bei ihnen blieben und deren Kinder nicht als Juden erzogen wurden, nicht ins KZ geschickt. Auf die Frauen allerdings wurde enormer Druck ausgeübt, die Ehe zu beenden, und wenn das der Fall war, stand den früheren Ehemännern die Deportation bevor. Die meisten dieser Mischehen hatten Bestand, doch es bedeutete einen erheblichen Akt des Widerstandes für Frauen wie Fely, den Drohungen und Einflüsterungen der Nazis zu widerstehen. Weil sie sich wehrte, musste sie mit Paul in ein »Judenhaus« im zweiten Bezirk ziehen, wo beinahe alle jüdischen Männer und Frauen leben mussten. Sie erlebte mit, wie selbst die engsten Freunde Pauls, etwa Carl Moll, jeden Kontakt zu ihm abbrachen. Trotzdem ließ Fely Paul nicht im Stich. Zusammen mit ihrer Tochter Lizzi waren sie die einzigen Verwandten, die den Krieg in Wien überstanden. Über zwanzig Jahre lang hatten die Gallias Fely als armes Mädchen abqualifiziert, das über seine Verhältnisse geheiratet habe; nun verdankte ihr Paul sein Überleben.
    Hermines ältester Bruder, Otto Hamburger, profitierte ebenfalls von den unbeabsichtigten Konsequenzen seiner Handlungen zwanzig Jahre zuvor, als seine Affäre mit Dagmar die Geburt Gudruns zur Folge gehabt und Hermine darauf bestanden hatte, dass er Dagmar heiratete, um sein unmoralisches Verhalten wiedergutzumachen. Da Dagmar »Arierin« war, konnte Otto in relativer Sicherheit mit ihr in Bruntál bleiben, das seit 1938 auf deutschem Staatsgebiet lag. Als sie 1940 starb, erlaubten ihm die Nazis, ihre sterblichen Überreste nach Kopenhagen zu bringen, wo sie begraben wurden; kurz danach erlitt er einen Zusammenbruch und starb 1941 in einer Nervenheilanstalt.
    Guido Hamburger senior hatte beinahe keine Chance, da seine Frau Nelly ebenfalls Konvertitin war; beide waren zudem zu alt, um Visa zu erhalten. Im Oktober 1941, als ihre Enkelin Jana geboren wurde, befanden sie sich noch in Prag, Nelly wurde Janas Patin. Einige Tage später befanden sie sich unter den ersten 5000 Männern, Frauen und Kindern, die aus Prag deportiert wurden. Ihr Ziel war die polnische Stadt Łódź, wo sich ein weiteres von den Nazis errichtetes Ghetto befand. Die Zustände in Łódź waren weit schlimmer als in Theresienstadt, und die neuen tschechischen Ankömmlinge starben besonders rasch. Nelly überlebte den Winter, im Frühjahr aber wurde sie in Chelmno, dem ersten Vernichtungslager der Nazis, vergast; 400.000 Juden wurden dort in Gaswagen umgebracht. Was mit Guido geschah, darüber gibt es keine Nachricht.
    Das Alter bestimmte auch das Schicksal von Ludwig oder Louis Gallia, dem einzigen Sohn von Moriz’ Bruder Wilhelm, dem ehemaligen Partner von Moriz’ Bruder Adolf und gelegentlichen Anwalt der Wiener Werkstätte. Louis schrieb im Februar 1939 seiner Lieblingsnichte Liesl, er sei immer noch in Wien, während die 35-jährige Liesl mit ihrem 42-jährigen Mann Erich auf dem Weg nach Melbourne war. Louis, 61 Jahre alt, betonte, er wünsche sich nur, Liesl noch einmal zu sehen, erwarte aber nicht, dass dies möglich sei.
    Drei Wochen später setzte Louis ein Dokument auf, das er mit »Mein letzter Wille« überschrieb; darin verteilte er nicht nur das, was von seinem Vermögen noch übrig war, sondern erteilte auch den Überlebenden Anweisungen und bat sie um Verzeihung. Louis begann: »Ich bin zu verbrennen. Niemand darf bei Beisetzung und Begräbnis anwesend sein. Meine Asche ist aus der Urne in die Erde zu vergraben. Kein Stein oder irgendeine andere Erinnerung darf aufgestellt werden. Jede Verständigung von meinem Tode hat zu unterbleiben.« Dann wandte er sich an seine jüngere Schwester Friedl, die einzig Überlebende von seinen Geschwistern, die mit ihm in seiner Wiener Wohnung gelebt hatte. »Friedl soll so rasch wie möglich nach England gehen«, wies er sie an, ohne zu erklären, wie sie zu einem Visum kommen sollte. Dann ließ Louis seine Neffen und Nichten grüßen und küssen. Er

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