Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
war. Er verließ Wien im Frühjahr 1939, kam aber nur bis in die Tschechoslowakei, die inzwischen von den Deutschen besetzt war; 1941 war er wieder in Wien, auch im September, wo inzwischen alle über sechsjährigen Juden gelbe Davidsterne zu tragen hatten, die sie selber kaufen mussten. Auch im Oktober war er hier, als die Nazis mit der Massendeportation der verbliebenen Wiener Juden nach Osten begannen, ebenso noch im April 1942, als diese Deportationen die jüdische Bevölkerung Wiens auf 22.000 dezimierten, ein Zehntel der Zeit vor dem »Anschluss«. Am 6. Mai wurde auch er deportiert.
Der Transport ging durch die ehemalige Tschechoslowakei und Polen nach Maly Trostinec in Weißrussland, eine Reise, die meist drei Tage in Anspruch nahm. Der Zug mit Gustav erreichte Koydanov in der Nähe von Maly Trostinec am Nachmittag des 9. Mai, blieb dann aber 42 Stunden stehen, da der 9. ein Samstag war und die höheren Nazifunktionäre nicht wollten, dass die Polizisten und SS-Leute, die in Maly Trostinec auf die Deportierten warteten, am Wochenende arbeiten mussten. Als der Zug schließlich am Montagvormittag Maly Trostinec erreichte, wurden einige wenige aus dem Transport für Feldarbeit ausgesondert. Alle anderen, darunter der 62-jährige Gustav, mussten ihre Kleidung ablegen, man nahm ihnen ihre Wertsachen weg; dann wurden sie vor ausgehobene Gräben gestellt und erschossen.
Viele andere Verwandte Annes hatten guten Grund, sich zu fragen, was aus ihnen werden würde. Guido Hamburger junior, der ältere Sohn von Hermines Bruder Guido, hatte besonderes Glück, obwohl er wie viele Männer und Frauen jüdischer Herkunft zweimal aus dem Sudetenland flüchten musste. Zunächst flohen sie nach dem Münchner Abkommen im September 1938 in die Rest-Tschechoslowakei, was leicht hätte sein sollen, schließlich hatten sie ein Recht, dorthin zu fahren, sich in Wirklichkeit aber als schwierig herausstellte, da die tschechische Regierung sie nur widerwillig aufnahm und die neuen Nazi-Herren im Sudetenland gegen einige mit Gewalt vorgingen, andere inhaftierten und sich den Großteil ihres Vermögens aneigneten. Als die Deutschen im März 1939 den Rest der Tschechoslowakei besetzten, mussten sie erneut flüchten.
Guido junior fand beim Schlangestehen seine Liebe. Als er eines Tages in der britischen Botschaft in Prag wartete, erregte eine Frau vor ihm sein Interesse. In den nächsten paar Monaten, während der 29-jährige Guido und die 28-jährige Anna Schauer auf Visa warteten, nahm er sie nachhause mit, um sie seinen Eltern vorzustellen, die ebenfalls nach Prag geflohen waren; sie wiederum stellte ihn ihren Eltern vor. Hin und wieder konnten Guido und Anna auch ein wenig normales Sommerleben genießen, sie schwammen in der Moldau flussabwärts und kehrten dann mit der Fähre zurück. Mitte August hatten sie ihre Einreisebewilligung, vierzehn Tage, bevor der Krieg begann, konnten sie damit England erreichen. Sie heirateten ein paar Jahre später.
Guidos jüngerem Bruder Friedrich, der in Prag geblieben war, erging es ganz anders. Mitte 1942 wurden er, seine Frau Helene und die neun Monate alte Tochter Jana nach Theresienstadt deportiert, eine Festung nordwestlich von Prag, aus der die Nazis ein Ghetto gemacht hatten. In gewisser Hinsicht war das ein etwas milderes Lager – eine »Modellsiedlung« unter der Leitung eines Judenrates, es gab dort Vorträge, Konzerte und Schulen. Doch Nahrung, Kleidung, Decken, Medizin und Heizung waren auch hier knapp, dazu grassierten Krankheiten. Und es herrschte extreme Überfüllung. Vor dem Krieg hatten 8000 Menschen in Theresienstadt gelebt, nun waren es einmal beinahe 60.000, obwohl die Nazis viele der Insassen sofort in die Vernichtungslager im Osten weiterschickten, wo sie ermordet wurden.
Friedrich, Helene und Jana waren zwei Jahre lang relativ sicher, da die jüdischen Ghettoverantwortlichen alles taten, was sie konnten, um Erwachsene mit Kleinkindern zu schützen. Statt sie für die Transporte Richtung Osten auszuwählen, behielten sie sie in Theresienstadt, wo nur achtzig Kinder unter zehn Jahren starben, verglichen mit den 15.000 Männern und Frauen über siebzig. Als allerdings die Nazis 1944 die meisten Insassen von Theresienstadt nach Auschwitz deportierten, wurden oft Männer ohne ihre Frauen und Kinder selektiert; beinahe alle, die an Tuberkulose litten, wurden auf den Transport geschickt, kaum einer genoss besonderen Schutz. Von den 141.000 Insassen von Theresienstadt überlebten
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