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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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endete mit einer Beschwörung an jene, die ihm am wichtigsten waren. »Friedl und Liesl«, so bat er, »sollen mir nicht böse sein.«
    Veronal, ein Produkt der deutschen Pharma-Firma Bayer, Anfang der 1900er Jahre auf den Markt gekommen, war das erste frei verkäufliche Barbiturat. Meist nahm man es als Schlafmittel, Tausende deutsche und österreichische Juden aber, die aus Angst und Verzweiflung diesen Weg wählten, um nicht mehr gedemütigt, angegriffen und in Konzentrationslager geschickt zu werden, begingen damit Selbstmord. Veronal erlaubte ihnen, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen und in Würde zu sterben.
    Einer von ihnen war Louis Gallia, nachdem er sein Testament fertig geschrieben hatte und in der Nacht des 3. März zu Bett gegangen war. Als man ihn am nächsten Morgen fand und mit der Rettung ins Rothschild-Spital brachte, das noch geöffnet blieb, lange nachdem die Nazis die meisten anderen jüdischen Einrichtungen in der Stadt geschlossen hatten, konnten die Ärzte nichts mehr für ihn tun. Ein Verwandter, Arthur Kary, schrieb einige Stunden danach an Liesls Bruder Peter Langer, der bereits in Australien war: »Leider muss ich Dir einen großen Kummer bereiten, welchen Du mutig ertragen musst. Dein braver Onkel Olu« (so wurde Louis in der Verwandtschaft genannt, T.B.) »konnte u. wollte dieses Leben nicht mehr ertragen und ist seit heute nicht mehr.«
    Viele Berichte unterstreichen, wie normal damals solche Selbsttötungen wurden. Der britische Journalist G.E.R. Gedye behauptete, »jüdische Freunde berichteten einem von ihrer Absicht, Selbstmord zu begehen, mit nicht mehr Emotion, als sie früher davon gesprochen hatten, eine einstündige Zugfahrt zu unternehmen«. Louis’ Verwandte und Freunde in Wien aber waren geschockt von seinem Tod, da er keinen Hinweis darauf gegeben hatte, was er plante. An seinem letzten Tag hatte er wie üblich als Anwalt gearbeitet und war dann scheinbar unbewegt zu Bett gegangen. »Man konnte ihm gestern nichts anmerken«, informierte Kary Peter Langer. »Es kam Allen sehr überraschend.«
    Ein Faktor war, wie es um seine Anwaltspraxis stand. Die Nazis hatten zunächst jüdische Anwälte daran gehindert, »arische« Klienten zu vertreten, dann verboten sie ihnen die Berufstätigkeit überhaupt, außer hundert Personen, die als »Berater« für Juden tätig sein durften. Louis gehörte zwar zu dieser relativ bevorzugten Gruppe, doch er wusste, das würde nicht von Dauer sein. Kary bemerkte: »Kein Wunder, dass Olu genug hatte. Bei Ärzten ist es ebenso scheußlich, u. was sollen Kaufleute, industr(ielle) Angest(ellte) ... sagen; es wird jeden Tag grausamer.« Louis wusste auch, dass seine Aussichten düster waren, auch wenn er entkommen konnte. In Australien, so dachte er, hätte er eine Chance gehabt, weiterhin als Anwalt zu arbeiten; ihm war nicht bewusst, dass seine Qualifikationen dort nicht anerkannt werden würden. Kary schrieb: »Es ist zu schrecklich, was wir erleiden müssen, und es ist nahezu unmöglich, mit 61 Jahren einen neuen Beruf u. ein neues Leben zu beginnen. Wir wissen ja nicht einmal, wie viele Leute sich umbringen, aber für alte Leute gibt es kaum eine vernünftigere Wahl.«
    Carl Moll tat dasselbe, unter ganz anderen Umständen. Zusammen mit seiner Tochter Maria und seinem Schwiegersohn Richard Eberstaller gehörte er zu den wenigen Österreichern, die Selbstmord begingen, nachdem die Sowjets 1945 Wien eingenommen hatten. Es hieß, der Selbstmord Molls und der Eberstallers in der Nacht des 12. April sei die Folge von Ereignissen dieses Tages gewesen; der 84-jährige Moll sei angeblich von russischen Soldaten verwundet worden, als er versuchte, seine Tochter Maria vor Vergewaltigung zu schützen. Doch Moll hatte bereits am 10. April einen Abschiedsbrief verfasst, in dem er seine Überzeugung ausdrückte: »Ich schlafe reuelos ein, ich habe alles Schöne gehabt, was ein Leben zu bieten hat.« Richard Eberstaller wusste, dass er wegen seiner Stellung als Vizepräsident des Landesgerichts für Strafsachen in Wien »das Schlimmste zu erwarten« hatte. Für alle drei war der Zusammenbruch des Naziregimes eine Katastrophe, die sie nicht durchleben wollten.
    Als meine Mutter ihre Geschichte niederschrieb, berichtete sie, welche Familienmitglieder von den Nazis umgebracht worden waren, erklärte aber nicht näher, wann oder wo sie gestorben waren. Ich wollte Näheres wissen. In einem Entwurf ihrer Memoiren, der sich dann als der letzte

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