Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
bereit waren, sie aufzunehmen. So überlebten drei von vier den Krieg, fast doppelt so viele wie im europäischen Durchschnitt. 65.000 österreichische Juden aber kamen ums Leben, viele Familien wurden zerstört. Unter ihnen waren die Herschmanns, die Familie von Annelores Vater Paul, da es ihnen an Geld und Beziehungen mangelte und ihr Alter gegen sie sprach. Nur dem jüngsten der Herschmann-Brüder, Otto, der 1938 erst 44 geworden war, gelang es, aus Europa nach Argentinien zu entkommen, wo er in Sicherheit den Krieg überstand.
Der erste Bericht von Paul nach dem »Anschluss« stammt von Mitte 1938, als Juden mit einem Vermögen von mehr als 5000 Reichsmark Aufstellungen ihrer Vermögenswerte abgeben mussten. Pauls Angaben beliefen sich auf 10.000 Mark, weniger als ein Zehntel von dem, was Gretl, und kaum mehr als das, was Annelore angegeben hatte. Gegen Ende des Jahres war er bereits unter der 5000-Mark-Grenze, da der Wert der Lederhandlung ins Bodenlose gesunken war, obwohl sie noch nicht arisiert worden war. Die Gestapo hatte ihn verhaftet, aber wieder freigelassen. Im April darauf besorgte er sich einen deutschen Pass, auf dessen Foto der 47-jährige Paul bemerkenswert jung aussieht, mit faltenlosem Gesicht und immer noch dunklem Haar, wenn auch die Beschreibung es als »meliert« bezeichnet. Binnen weniger Wochen ergriff er die einzige Fluchtmöglichkeit, die ihm blieb, und versuchte illegal die Grenze nach Belgien zu überschreiten, da er kein Visum erhalten konnte. Dabei musste er den deutschen wie den belgischen Grenzposten ausweichen; deren Zahl war beträchtlich gestiegen, weil Belgien wie andere europäische Staaten deutsche und österreichische Juden abzuweisen versuchte.
Pauls Pass, mit dem er 1939 den Nazis durch eine Flucht nach Belgien ohne Visum entkam. Die Farbe des auf die Vorderseite gestempelten roten J (für »Jude«) ist auf das Foto durchgesickert.
Die besten Bedingungen für einen Grenzübertritt herrschten bei Nacht und Nebel. Die meisten Flüchtlinge beschäftigten »Menschenschmuggler«, wie man es jetzt nannte, Deutsche und Belgier, die durch den Transport von Flüchtlingen schnelles Geld machten. Fritz Loewenstein, ein Berliner, in Australien später der Möbeltischler Fred Lowen, bezahlte 400 Mark, etwa ein Zehntel von dem, was Paul besaß. Um diesen Preis nahm ein Lastwagen Loewenstein nach Belgien mit, wo weitere Begleiter mit einem anderen Kraftwagen bereitstanden. Als er ausstieg, feuerten deutsche Grenzposten auf sie, obwohl sie die Grenze bereits überquert hatten. Dann hielten belgische Zöllner das Auto auf, das aber beschleunigte und durch den Zoll raste. Entscheidend war es, dreißig Kilometer jenseits der Grenze hinter sich zu bringen; die Tausenden Flüchtlinge, die man innerhalb dieser Zone aufgriff, wurden von Belgien an Deutschland zurückgestellt. Wer es weiter schaffte, fand Belgien großzügiger als die meisten anderen europäischen Staaten. Die Regierung schickte ein paar Hundert zurück, erlaubte aber 24.000 Personen, zu bleiben, und unterstützte sie ab Mitte 1939 auch.
Paul blieb ein Jahr lang in Brüssel. Er war dort, als im September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann, und auch im Jänner 1940, als sein Pass von der deutschen Botschaft für ein Jahr verlängert wurde. Im Mai, als die Deutschen dem »Scheinkrieg« ein Ende setzten und Belgien, die Niederlande und Luxemburg und in der Folge Frankreich besetzten, hielt er sich immer noch dort auf. Während Zehntausende Juden vor den Deutschen zu fliehen versuchten, war Paul unter den etlichen Tausend, die die Nazis aus Belgien vertrieben, um das Land von Juden zu »säubern« und sie anderen Ländern aufzubürden. Der neue Abladeplatz war Südfrankreich, das die Deutschen nicht besetzt hatten, sondern von ihren französischen Kollaborateuren unter Marschall Pétain regieren ließen.
Die Vichy-Regierung brauchte keinen Ansporn, um den Antisemitismus zu übernehmen. Sie erließ umgehend eine Reihe von Gesetzen, die über jene im von den Deutschen besetzten Teil Frankreichs hinausgingen, darunter eines, das lokale Behörden ermächtigte, »alle Ausländer jüdischer Rasse« festzunehmen und in eigenen Gefängnissen zu inhaftieren, die man in Deutschland »camps de concentration« nenne. Paul wurde in einem dieser Lager interniert, scheint aber entkommen zu sein, bevor die Sicherheitsvorkehrungen zu strikt wurden. Ein Trost für ihn war, dass er mit seinem Lieblingsbruder
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