Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
herausstellte, las ich, Gustav und Franz Herschmann seien »schließlich in Konzentrationslager gebracht worden, wo sie starben«, und fügte die Anmerkung hinzu: »Weißt du, in welches?« Als ich Material für dieses Buch recherchierte, begann ich es herauszufinden. Nachdem ich in Listen von nicht in Anspruch genommenen Versicherungspolizzen und ruhenden Bankkonten Gustav und Franz aufgespürt hatte, kam ich auf die Website des Jewish Memorial Center, wo ich den Eintrag fand: »Herschmann, Franz, 26.3.88 Vienna – 14.9.42 Auschwitz.«
Es war einer jener Augenblicke, die meinen Ort in der Welt änderten. Franz sagte mir damals fast nichts. Ich wusste nicht, wie er aussah. Ich wusste nichts über seine Leidenschaften, seine Überzeugungen, seine Vorlieben und Gewohnheiten. Aber mit einem Mausklick hatte ich mich von jemandem, der sich vom Holocaust kaum berührt fühlte, da meine nächsten Verwandten alle überlebt hatten, in jemanden verwandelt, der eine direkte Verbindung zu seiner offenkundigsten Ausprägung besaß. Dass Franz einer meiner Großonkel gewesen war – derselbe Verwandtschaftsgrad wie Erni, eine Schlüsselfigur meiner Kindheit –, rückte mir seinen Tod noch näher. Ich war unzufrieden damit gewesen, wie vage meine Mutter blieb, doch ich hatte nicht erwartet, dass es so erschreckend war, mehr zu wissen.
Was ich über Louis Gallia herausfand, der mir zunächst ebenso fern gewesen war, ging mir ähnlich nahe. In Annes Geschichte tauchte er nur einmal kurz als Idas Testamentsvollstrecker auf. In Gretls Augen hatte er ein Sakrileg begangen, als er Idas Wohnung am Stubenring ausräumte und Fotos aus ihren Silberrahmen nahm, darunter ein Porträt von Moriz. Anne beschrieb es so: »Gretl hatte ihren Vater geliebt, und was sie betraf, musste sein Foto im Rahmen bleiben. Bilderrahmen waren nicht bloß da, um wieder verwendet oder verkauft zu werden.« Charakteristischerweise hatte Gretl Louis nie vergeben, und Anne erbte ihre Antipathie. In ihrer Geschichte tat sie keine Erwähnung davon, wann oder wie Louis gestorben war.
Meine Verbindung zu ihm begann, als einer von Melanie Gallias Nachkommen mir Louis’ letzten Brief an seine Nichte Liesl und Arthur Karys Brief, der Louis’ Tod beschrieb, zeigte. Diese Briefe brachten mich ihm näher als vielen anderen Familienmitgliedern, mit denen ich näher verwandt war. Doch nachdem mir ein Wiener Genealoge ein E-Mail mit den Testamenten von Adolf, Ida und Louis geschickt hatte, begann ich mit Adolf und Ida, da sie für dieses Buch wesentlicher waren und da ich dachte, Louis’ Testament wäre ohne Bedeutung. Als ich es schließlich öffnete, erwartete ich die übliche Aufteilung von Eigentum. Stattdessen fand ich seinen Abschiedsbrief.
IV
ANNE
1939
DIE FLÜCHTLINGE, DIE sich nach der »Kristallnacht« nach Sydney und Melbourne retteten, kamen aus einer apokalyptischen Landschaft in eine andere, aus Städten, in denen es noch brannte, in eine andere Umgebung, die in Flammen stand; es waren die Auswirkungen dessen, was wir heute als El Niño bezeichnen. Eine Woche, nachdem Gretl, Käthe und Annelore gelandet waren, zerstörten am »Schwarzen Freitag«, dem 13. Jänner 1939, Buschfeuer 1,4 Millionen Hektar Land in Victoria, wobei 71 Menschen ums Leben kamen. In New South Wales hielten die extremen Temperaturen wochenlang an, über hundert Menschen starben an Hitzschlag. In Sydney waren die Umstände etwas besser, aber am »Schwarzen Freitag« hatte es um zehn Uhr abends immer noch über neunzig Grad Fahrenheit oder 32 Grad Celsius, es war angeblich der drückendste Abend, den man je erlebt hatte. Der nächste Tag war noch schlimmer: Die Temperatur kletterte auf 113 Grad Fahrenheit oder 45 Grad Celsius.
Vieles andere in Sydney aber machte die Stadt lebenswert. Wie die meisten Flüchtlinge entdeckte Anne die Pracht der städtischen Strände. Nach ihren Ängsten in Wien, auf der Straße attackiert zu werden, genoss sie die Sicherheit hier; das bedeutete, dass Gretl, Käthe und sie die Türen unversperrt lassen und abends unbesorgt ausgehen konnten. Doch noch andere Seiten Australiens schienen den Neuankömmlingen fremdartig, Flora und Fauna, Architektur und Stadtplanung, Essen und Kleidung. Wie in den meisten Ländern, in welche die Flüchtlinge Ende der 1930er Jahre flohen, war der Druck, sich anzupassen, enorm, nicht nur von der Allgemeinheit, sondern auch von der dort existierenden jüdischen Gemeinde. Die »Reffos«, wie man die Neuankömmlinge in einer
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