Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Abkürzung des Wortes »refugee« nannte (wenn sie nicht »Scheiß-Reffos« oder »Reffo-Bastarde« waren), lernten umgehend, dass sie »gute Australier« werden, die »australische Lebensart« annehmen und sich »bemühen sollten, einen einheimischen Akzent und einheimische Sitten anzunehmen und anerkannte Bürger eines neuen und freien Landes zu werden«. Die Schilder auf einer Farm für Flüchtlinge in einem Vorort von Sydney, die von der Jewish Welfare Society betrieben wurde – die Neuankömmlinge sollten sich nicht in der Stadt zusammenballen –, waren aufschlussreich. Auf einem hieß es: »Versuchen Sie nicht, den Kühen Deutsch beizubringen, sie wollen lieber auf Englisch gemolken werden.« Ein anderes instruierte: »Singen und lachen Sie, in welcher Sprache Sie wollen, aber SPRECHEN SIE NUR ENGLISCH.«
Viele Flüchtlinge anglisierten daraufhin ihre Namen oder nahmen neue an, um ihre Herkunft zu verschleiern und sich den Ärger zu ersparen, dass ihre Namen immer wieder falsch ausgesprochen oder geschrieben wurden. So verschwand die Annelore Herschmann-Gallia aus dem
Telegraph
in Brisbane beinahe umgehend. Mit dem Vornamen war es leicht: So wie aus Käthe Kathe wurde, wurde aus Annelore Anne. Ungewöhnlicher war, dass sich auch ihr Nachname änderte, weil Gretl zu Gallia zurückkehrte, als eine solche sah sie sich ja; es verbarg aber natürlich nicht den Umstand, dass Anne und sie im anglo-keltischen Australien Fremde waren. Gretls Eile war außergewöhnlich; üblicherweise brauchten Flüchtlinge Monate, um ihre Nachnamen zu ändern, bei Gretl hingegen dauerte es nur eine Woche.
Sie änderte auch ihren mittleren Namen. Als sie nach Australien kam, war sie »MHG«, Margarete Herschmann-Gallia; diese Initialen wollte sie behalten. Sie musste zwar als verheiratete Frau gelten, da dies in der Öffentlichkeit erklärte, warum sie eine Tochter hatte, wollte aber keine Verbindung mit ihrem früheren Ehemann, und so entschied sie sich, Herschmann zu ersetzen. Die Möglichkeiten für »Mrs. M.H. Gallia«, als die sie in Sydney auftrat, waren unbegrenzt. Allerdings: Nach allen Streitereien Gretls mit ihrer Mutter, nach ihrer Rivalität um Moriz’ Zuneigung, während er noch lebte, und Hermines ständiger schlechter Behandlung und Demütigung Gretls nach seinem Tod nahm Gretl nun Hermine als ihren mittleren Namen an.
Als Anne einige Wochen später am St. Vincent’s College, das von Barmherzigen Schwestern in der Vorstadt Potts Point betrieben wurde, einen kurzen Fußweg weit von der ersten Wohnung der Gallias in Darlinghurst, wieder in die Schule ging, erfuhr ihre Identität einen neuerlichen Wandel. Im Aufnahmeregister der Schule war zwar die Taufe der Mädchen nicht extra angeführt, da die Nonnen annahmen, alle Mädchen seien ohnehin katholisch, es gab aber Spalten für die Erstkommunion und die Firmung. Statt Annes jüdische Herkunft offenzulegen, gab Gretl ihre eine komplette katholische Identität, um den Erwartungen der Schwestern zu entsprechen und Anne weitere Vorurteile zu ersparen. So trug Gretl das Datum von Annes Erstkommunion mit 1930 ein, als sie noch Mitglied in der Israelitischen Kultusgemeinde gewesen war, und das der Firmung mit 1938, wo sie den Platz eigentlich hätte leer lassen sollen.
Eine Brücke zwischen ihrer alten und neuen Welt bot Annes Katholizismus. Seit die Gallias und Hamburgers zu Beginn des Jahrhunderts übergetreten waren, war niemand so fromm gewesen wie sie. Anni Wiesbauer, ihre Lehrkraft in Sachen Spitzenreinigung, tat außerdem alles, was sie konnte, um Annes Gefühl der Isolation durch einen Brief zu erleichtern; er war so aufgegeben worden, dass er Sydney vor Anne erreichte. Darin erklärte Anni, im Geist reise sie mit Annelore, und nichts könne sie trennen. Unter den Flüchtlingen, von denen Anfang 1939 besonders viele eintrafen, war auch das eine oder andere vertraute Gesicht. Eine Familie kam sogar aus der Wohllebengasse: Es waren die Nossals – die Familie von Gustav Nossal, heute einer der bedeutendsten Wissenschaftler Australiens –, sie hatten auf Nummer 16 gewohnt und waren ebenfalls zum Katholizismus übergetreten.
Zudem gab es Aussicht auf noch mehr Wiener Kultur. Am Tag, nachdem Anne gelandet war, brachte der
Sydney Morning Herald
eine Geschichte mit der Überschrift »Die Wiener Sängerknaben kommen im nächsten Juni«. Tatsächlich war es der Mozart-Knabenchor, 1936 vom früheren Chorleiter Georg Gruber nach einem Zerwürfnis mit Rektor Schnitt
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