Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
gegründet, der Sydney besuchen sollte. Gruber hatte den Mozart-Knaben keineswegs ein neues Profil gegeben, sondern imitierte die Sängerknaben, um von deren Ruhm zu profitieren; auch in Sachen Auslandstourneen eiferte er ihnen nach. 1937 beschuldigte Schnitt Gruber, der Reputation der Sängerknaben zu schaden, sie betrogen zu haben und ein illegaler Nazi zu sein. Nach dem »Anschluss« revanchierte sich Gruber, indem er Schnitt aus seiner Stellung verdrängte und sich selbst kurzfristig zum Chorleiter der Wiener Sängerknaben machte, während er gleichzeitig die Kontrolle über den Mozart-Knabenchor behielt. Nach ihrer Ankunft musste sich Anne also entscheiden, ob sie eine Organisation unterstützen wollte, die mit dem Nazi-Regime verbunden, aber der nächste Kontakt zu ihrer liebsten musikalischen Institution in Wien war.
Dienstag, der 7. Februar 1939 war Annes erster Schultag in St. Vincent. Ich stelle mir vor, wie sie in ihrer neuen Schuluniform eintrifft, wie sie die Marmorstufen zur Schule hinaufsteigt, wie sie sich die Anlage ansieht, in der besonders eine von einer überdimensionierten Statue der Muttergottes von Lourdes dominierte Grotte auffällt. Ich sehe, wie sie die Schulkapelle betritt, wo jeden Morgen die Messe gelesen wird, wie sie zum ersten Mal in ihre Klasse geht, niemanden kennt und mit der Kakofonie englischer Laute zu kämpfen hat. Ich denke daran, wie sie der einzigen anderen Schülerin begegnet, die ebenfalls aus Wien geflohen ist. Ich weiß, dass sie es hasste, die Haare schulterlang abzuschneiden oder in Zöpfen zu tragen – das fand sie kindisch –, nachdem sie sie in Wien als Zeichen des Erwachsenseins schon hochgesteckt hatte.
Natürlich hatte sie Deutsch belegt, sodass eines ihrer Fächer leicht zu bewältigen sein würde. Doch peinlich fand sie es, dass ihre Lehrerin darin beinahe das ganze Jahr hindurch Gretl war, die zu Ende des ersten Semesters in St. Vincent zu arbeiten begonnen hatte. Anne war bestürzt, dass ihr Englisch viel schlechter war als erwartet. Sie hatte Angst, in Latein durchzufallen, da die anderen Mädchen es schon vier Jahre lang gelernt hatten, sie hingegen nur eineinhalb. Die Schularbeiten, die Organisation der Klassen und sogar die Art, wie man die Nonnen ansprach, waren ganz anders als das, was sie gewohnt war. Sie fürchtete das »Leaving«, das öffentliche Examen am Schluss des letzten australischen Schuljahres, da es ausschließlich aus schriftlichen Prüfungen bestand, und sie kannte so etwas noch nicht.
Für private Zwecke benutzte sie weiterhin das Deutsche, in der Öffentlichkeit aber immer Englisch; sie war entschlossen, es zu perfektionieren, denn das war wesentlich für ihre Prüfungen und der Schlüssel zur Assimilation. Eine Anthologie britischer Essays, die zu ihrer Pflichtlektüre gehörte, mag ein Beispiel für diese Anforderungen bieten. Bevor sie die Essays analysieren konnte, musste sie sie erst lesen können. Anmerkungen verraten, dass sie Hunderte Wörter nur mithilfe eines Wörterbuchs verstehen konnte. Doch sie machte rapide Fortschritte, wie man an einem im Juni 1939 begonnenen Übungsheft sieht. Die ersten Aufgaben hatte die Lehrerin über und über mit roten Anmerkungen versehen, doch schon im Oktober brauchte es keine Korrekturen mehr. Als die Schuldirektorin Anne eine Empfehlung schrieb, erklärte sie: »Ihr Fleiß bei ihren Studien in diesem Jahr war höchst bemerkenswert; hervorragend, wie sie neue Ausdrücke und eine neue Sprache gemeistert hat.«
Nach ihrer Ächtung in der Albertgasse erwartete sie nicht viel von ihren Schulkameradinnen. Entzückt war sie schon, weil die anderen Mädchen sie nicht schikanierten. Sie hatte zwar keine engen Freundinnen, doch wusste sie, dass dies zumindest teilweise deswegen so war, weil sie sich geschworen hatte, keine Freundschaften mehr zu riskieren, nachdem ihre zwei besten Wiener Freundinnen sie nach dem »Anschluss« links liegengelassen hatten. Dass in der Schulzeitung von St. Vincent eine Geschichte von ihr erschien, die auf ihre Erlebnisse als Flüchtling Bezug nahm, lässt erkennen, dass die Schule sie akzeptierte und auch neugierig auf andere Erfahrungen war. Aus einem Foto geht hervor, dass Anne zur Kammermusikgruppe der Schule gehörte; sie ist mit dem Cello ihres Vaters zu sehen. Nach ihrem letzten Tag in St. Vincent’s im Dezember schrieb sie: »Ich habe in diesem Jahr viel Gutes und Schönes erlebt.«
St. Vincent’s College in Sydney, geführt von Barmherzigen Schwestern.
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