Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Anne mit ihrem Cello sitzt vorne (3. v. r.). 1939.
Ihre Noten waren ein Triumph. Als Dritte ihrer Klasse abgeschlossen zu haben und als Beste in Deutsch freute sie sehr, am meisten aber bedeutete ihr die Englischnote. Als sie merkte, dass sie ein A bekommen hatte, beschrieb sie das als »unglaublich« und fürchtete, unbescheiden zu werden. »Ich hoffe«, bemerkte sie, »wegen dieser Sache nicht allzu stolz zu werden.« So wie Moriz und Hermine Gretl für ihre Matura mit einem Diamant-Perlen-Anhänger belohnt hatten, gab nun Gretl Anne ihre beste Uhr, eine Patek, eine der renommiertesten Schweizer Marken. Am Abend gab es zur Feier ein Essen bei Cahill’s, einem Kaffeehaus in Kings Cross, das berühmt war für seine Karamel-Eistorte.
Zwei Flüchtlingshilfsorganisationen in Sydney gaben Anne zusätzlich etwas zu tun und linderten ihre Isolation. Ziel des Continental Catholic Migrants Welfare Committee war es, den Neuankömmlingen zu helfen: »Katholische Flüchtlinge werden in Empfang genommen, man verschafft ihnen Arbeit und betreut sie ganz allgemein.« Manchmal kamen zu den monatlichen Sitzungen des Komitees eine erhebliche Zahl an Flüchtlingen, manchmal fast keine. Wie Gretl sich erinnerte, wurde Anne »Miss Committee«, sie war eifrig darauf aus, die kleine Gruppe aufzumuntern. Als das German Emergency Fellowship Committee, darunter Mrs. Ryan, eine Hafenrundfahrt für Flüchtlinge organisierte, lernte Anne die fünfzehnjährige Gertrude Angel kennen, die eine Woche nach Anne nach Sydney gekommen war; auch sie hatte Wien unmittelbar nach der »Kristallnacht« verlassen können. Sie wurde Annes älteste Freundin in Australien.
Auch Anni Wiesbauer versuchte ihr weiterhin aus der Ferne beizustehen. Nachdem sie einen Brief von Anne erhalten hatte, den diese am »Schwarzen Freitag« geschrieben und worin sie ihr Gefühl der Entfremdung geschildert hatte, antwortete Anni mit nie dagewesenener Emotion. Sie betonte, dass sie an Anne glaube, dass sie ihren inneren Wert erkenne und sie immer gernhaben werde; in einer Welt, in der Anne gesehen habe, dass beinahe nichts sicher oder verlässlich sei, könne sie auf Anni vertrauen. Sie erwähnte zwar den Antisemitismus, der Gretl, Kathe und Anne in die Flucht getrieben hatte, nicht ausdrücklich, aber sie dachte offensichtlich daran, wenn sie schrieb, dass die Prüfungen und die Drangsal, die Anne erlebt habe, Gottes Wille seien und sie zu einem besseren Menschen machen würden.
Eine ihrer Wiener Schulfreundinnen, Erika Brünn, die ebenfalls von Pater Elzear in der Franziskanerkirche getauft worden war, bedeutete Anne noch mehr. Als sie Briefe zu wechseln begannen, ging es Anne weit besser als Erika, die ohne ihre Eltern mit einem Kindertransport entkommen war, dem großen britischen, von den Quäkern ins Leben gerufenen humanitären Unternehmen, das ab Dezember 1938 Tausende jüdische Kinder rettete. Trotzdem hatten Anne und Erika noch vieles gemeinsam. So wie sich Anne in Sydney fremd und verloren fühlte, so ging es Erika in der englischen Küstenstadt Clacton. Wie Anne fand auch Erika Zuflucht in der katholischen Kirche, als sie in einem vom Sacré-Cœur geführten Krankenhaus zu arbeiten begann. Beide sehnten sie sich nach »unserem Wien«, wie Erika es immer noch nannte, aber dann erinnerten sie sich, warum sie geflohen waren, wie Erika bemerkte, nachdem sie Hitler im Radio gehört hatte. Sie schrieb: »Man vergisst viel, besonders wenn man keinen Kontakt mehr hat. Aber jetzt habe ich den ganzen Horror wieder vor Augen, und das setzt mir schrecklich zu.«
Gelegentliche Konzerte von Musikern auf Tournee boten Anne eine weitere Verbindung zu ihrer Vergangenheit, zugleich aber erinnerten sie sie daran, was sie verloren hatte. Der Veranstaltungsort war symbolisch. Sydney, eine Stadt mit beinahe 1,3 Millionen Einwohnern, nicht viel kleiner als Wien, hatte kein richtiges Konzerthaus, geschweige denn eine Oper; so fanden die meisten bedeutenderen Konzerte im Rathaus statt, wo die Akustik ganz ordentlich war, sonst aber beinahe nichts passte. Im Winter war der Saal fast nicht zu heizen, und so saß das Publikum in Hüten und Handschuhen in den Aufführungen. Da die Veranstalter keine Erfrischungen anbieten wollten, gingen viele Zuhörer in der Pause in das gegenüberliegende Hotel. In ihren ersten Konzerten hörte Anne Musiker, die Gretl als junge Frau in Wien erlebt hatte, sie selbst aber noch nicht kannte. Die erste war die Sopranistin Lotte Lehmann, die wegen ihrer
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