Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
antifaschistischen Einstellung nach dem »Anschluss« alle Verbindungen zu Deutschland und Österreich abgebrochen hatte. Es folgte der Klaviervirtuose Artur Schnabel, der in den Vereinigten Staaten Asyl gefunden hatte.
Als der Mozart-Knabenchor kam, stellte Anne wieder einmal Kultur vor Politik, so wie sie es in Wien vor der Abreise getan hatte. Eine Woche lang nahm sie ihre früheren Ausgehgewohnheiten wieder an; von den sechs Abendvorstellungen des Chors besuchte sie drei, dazu eine Matinee. Der Großteil des Repertoires war ihr vertraut, darunter Mozarts kurze Oper »Bastien und Bastienne« und der »Donauwalzer« von Johann Strauß. Neu war »Waltzing Mathilda«, die einzige Reverenz des Chors an die australische Kultur, er brachte sie immer als Zugabe. Anne scheint das Stück fremd geblieben zu sein, das sieht man daran, dass sie es einmal als »Waltzing Mathilda« notierte, einmal als »Dancing Mathilda« und einmal als »Walking Mathilda«.
Weihnachten verbrachte Anne zuhause in der Wohnung in Rose Bay; sie räumte ihr Zimmer auf, hörte im Radio Musik und las zwischen der Sonntagsmesse am Vormittag und ihrer ersten Mitternachtsmesse. Und sie ergriff die Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie sich ihr Leben in den vergangenen zwei Jahren verändert hatte. Sie erinnerte sich an ihr letztes Wiener Weihnachten 1937, kurz vor ihrer ersten Ballsaison, der »Anschluss« lag noch in der Zukunft. Sie erinnerte sich, wie Gretl, Kathe und sie 1938 nach Australien übergesetzt waren, ohne eine Vorstellung davon, was sie erwartete. Nun saßen sie in ihrer eigenen, mit Girlanden und Glöckchen geschmückten Wohnung, hatten guten Fisch, Weihnachtsgebäck und Lebkuchen gegessen. Und es gab noch mehr, auf das sie sich freuen konnten, denn ihre »alte Freundin« Mabel Ferguson, die sie auf der
Nieuw Zeeland
kennen gelernt hatten, würde sie am Christtag besuchen. Anne dankte Gott, dass er so gut zu ihnen gewesen war.
Kathe begann unterdessen ihr neues Leben mit großen Hoffnungen. Wegen ihrer Ausbildung als Chemikerin und ihrer langjährigen Erfahrung als berufstätige Frau freute sie sich darauf, die Karriere wiederaufzunehmen, die sie nach Lenes Tod aufgegeben hatte. Falls sie kein eigenes Labor aufmachte, nachdem ihre technischen Geräte in Sydney eingetroffen waren, dann würde sie eben eine Stelle als Chemikerin finden. Aber sie entdeckte bald, dass die australischen Behörden ihre Qualifikationen nur teilweise anerkannten, und viele ihrer Geräte waren beim Transport kaputtgegangen. Ihre erste Stelle, die sie im März 1939 antrat, war Laborantin in einem Krankenhaus, eine Krankenvertretung für drei Wochen und dann wieder im Mai. Und das war’s, bis der Kriegsbeginn im September zahlreiche Stellen frei werden ließ und Kathe in einer Fabrik für Bleistifte und Kohlepapier unterkam. Sie hatte vielleicht übertrieben, als sie sich als »Industriechemikerin« beschrieb, aber nun hatte sie einen dauerhaften Vollzeitjob und konnte einiges von ihren wissenschaftlichen Kenntnissen verwerten.
Gretl erwies sich als anpassungsfähiger, wie viele andere weibliche Flüchtlinge, die vorher nie berufstätig gewesen waren. Als sie auf dem Ankunftsformular ihre erwartete Beschäftigung angeben sollte, schrieb sie: »Noch unbekannt.« Sie hatte Angst, nur eine unqualifizierte Arbeit zu finden. Aber die Jahre musikalischer Ausbildung, die aus ihr eine kultivierte Dame machen sollten, brachten beinahe sofort eine Gelegenheit. Sie begann in einer der besten Musikschulen von Sydney, die die Barmherzigen Schwestern auf dem Gelände von St. Vincent betrieben, wo Anne zur Schule ging, deutschen Liedgesang zu unterrichten. Es war zwar nur eine Stunde pro Woche, aber qualifizierte Arbeit, und das nur drei Wochen, nachdem sie gelandet waren.
Die Jahre des Sprachenunterrichts – auch er war erteilt worden, um aus ihr eine kultivierte Dame der Gesellschaft zu formen – machten sich noch mehr bezahlt. Im April hatte sie bereits eine weitere Teilzeitstelle in St. Vincent als Sprachenlehrerin für Deutsch und Französisch, eine Rolle, für die sie weder Erfahrung noch Qualifikationen – außer dass sie beide Sprachen beherrschte – mitbrachte. Dazwischen gab sie Privatstunden und arbeitete als Putzfrau. Eine ihrer ersten Arbeitgeberinnen war eine ältere jüdische Frau, die einige Jahre zuvor als Flüchtling nach Australien gekommen war. Wenn Gretl mit dem Putzen fertig war, spielten sie vierhändig Klavier, und Gretl wurde zeitweilig von
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