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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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der Dienstbotin zur Gleichgestellten.
    Eine weitere Chance bot sich Gretl durch australische Frauenzeitschriften. Als sie entdeckte, dass manche Rezeptwettbewerbe veranstalteten, versuchte sie trotz ihrer mäßigen Erfahrungen als Köchin ihr Glück. Die Vorgangsweise war sehr angenehm: Man musste nicht einmal einen Kuchen backen oder eine Pastete zubereiten, es genügte, wenn man die Zeitschrift kaufte, den beigelegten Abschnitt ausfüllte, ein Rezept einschickte und wartete, ob die Jury es aus Tausenden eingesandten Rezepten auswählen würde. Die Wiener Rezepte, die Gretl lieferte, waren ein kleiner Test, ob die Australierinnen Geschmack an etwas Neuem, Mitteleuropäischem aufbringen würden. Als eines Erfolg hatte, schlachtete Gretl die Überraschung gehörig aus: Am Abend, als Kathe und Anne sich zum Essen hinsetzten, fanden sie neben ihren Tellern je ein Drittel der Gewinnsumme.
    Das Geld und die öffentliche Anerkennung bedeuteten ihnen etwas. Gretls Teilzeitarbeit in St. Vincent brachte zwei Pfund fünfzehn Shilling pro Woche ein, ein Rezept für eine Orangencremetorte, das Gretl und Kathe bei einem Wettbewerb im
Australian Home Journal
einschickten und das dort den zweiten Preis erzielte, brachte zwölf Pfund zehn Shilling. Es wurde auch in »Mummie Won a Prize!« veröffentlicht, einer Broschüre mit den siegreichen Rezepten, zusammen mit einem Foto der Torte. Weitere sieben Rezepte, die Gretl, Kathe und Anne bei einem Wettbewerb der Zeitschrift
Woman
einreichten, wurden in einem Buch mit »erprobten Rezepten« veröffentlicht, den »besten der Kochkunst«, wie es hieß.
    Die Freude, private Anerkennung zu finden, war ebenfalls groß. Da im
Woman
-Kochbuch die Namen und Adressen aller Personen standen, die Rezepte beigetragen hatten, konnten die Leserinnen ihnen schreiben. Im August 1939 erhielt Gretl diesen Brief: »Sie werden mich für aufdringlich halten, wenn ich Ihnen schreibe, doch ich habe das Gefühl, ich muss es einfach tun. Vor einiger Zeit kaufte ich das
Woman
-Kochbuch und war beim Durchblättern besonders von Ihren Rezepten und denen von Dr. Gallia und Miss Gallia angetan. Ich bin erst seit vier Monaten verheiratet, aber die Rezepte waren so einfach und doch so köstlich, dass ich sie ganz leicht und ohne Probleme nachmachen konnte.«
    Am besten gefallen hatte Mrs. Merle Pateman aus Murrumbateman im ländlichen New South Wales das Rezept für Wiener Pflastersteine:
    Zutaten:
    140 g Staubzucker, gesiebt
    140 g Mandeln
    2 Eiweiß
    fein geschnittenes Orangeat
    Zimt
    Zubereitung:
    Das Eiweiß mit dem Zucker steif schlagen, gemahlene Mandeln und fein gehacktes Orangeat unterheben. Kleine Bällchen formen, auf ein gefettetes Blech legen. Die Oberfläche mit einer Gabel etwas aufrauhen. Bei mittlerer Hitze etwa zwölf Minuten backen. Nach dem Abkühlen mit weißer oder rosa Glasur überziehen. Delikate Köstlichkeiten für die Bridge-Party.
    Mrs. Pateman hatte mit den Pflastersteinen solche Lorbeeren geerntet, dass sie noch mehr Rezepte wollte. »Könnten wir vielleicht welche austauschen?«, fragte sie. Als sie das nächste Mal Sydney besuchte, kam sie zum Abendessen.
    Diese ungewöhnliche Freundschaft mit einer jungverheirateten Frau aus der Provinz war eine von vielen, die Gretl schloss. Die meisten Flüchtlinge hielten sich anfangs ganz an ihresgleichen, doch Gretl knüpfte rasch Kontakte zu Anglo-Australiern, darunter mehrere einflussreiche Persönlichkeiten in der Gesellschaft von Sydney. Ausschlaggebend dabei war, dass sie das Bedürfnis mancher Australier nach europäischer Hochkultur und ihre Sehnsucht nach dem Kosmopolitischen weit eher befriedigte als Kathe. Gretl war die Art von Flüchtling, welche die Korrespondenten des
Sydney Morning Herald
im Sinn hatten, als sie unterstrichen, dass Flüchtlinge die australische Gesellschaft bereichern könnten, weil »kultivierte Leute« die »besten Immigranten« seien. Dass Gretl Englisch so gut beherrschte, war ein großer Vorteil, ihre elegante Kleidung und ihre feinen Manieren, dass sie offensichtlich eine gebildete Dame war, verliehen ihr Prestige.
    John Ferguson war Richter am Handelsgericht von New South Wales, besser aber bekannt als Bibliophiler, der eine siebenbändige Bibliographie Australiens veröffentlicht hatte. Zudem war er mit jener Mrs. Ferguson verwandt, die Gretl, Kathe und Anne abholte, als sie Ende 1938 nach Australien gekommen waren, und Ende 1939 in bemerkenswerter Sorge um ihr Wohlergehen den Großteil des Weihnachtstages mit

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