Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
intensiverer Überwachung.
Die Mehrheit der Flüchtlinge sah diese Ereignisse im Rückblick als etwas, das man mit einem Achselzucken oder einem Lächeln als unwichtig abtun konnte. Ihr Gefühl, großes Glück gehabt zu haben, weil sie dem Holocaust entronnen waren, hielt sie davon ab, das Land zu kritisieren, das ihnen Zuflucht geboten hatte. Doch damals sahen viele die Dinge anders. Lucy Gruder, ein Wiener Flüchtlingsmädchen, zwei Jahre jünger als Anne, schickte einen Brief an den
Sydney Morning Herald
, in dem sie beschrieb, wie der Krieg der »sehr freundlichen Aufnahme« der Flüchtlinge in Australien ein Ende gesetzt habe. »Die Leute betrachten uns als ihre Feinde«, bemerkte sie, »sie versuchen mit aller Macht, uns in Konzentrationslager und ins Gefängnis zu schicken.« Annes ehemaliger Tanzpartner Georg Schidlof, der nach dem »Anschluss« nach England entkommen war, erlebte solch ein Schicksal, als man ihn zusammen mit 2500 deutschen und österreichischen Flüchtlingen in die Internierung nach Australien schickte. Als Georg später erklärte, warum er sich nicht bei Anne gemeldet hatte, sprach er von seiner Angst, die Gallias »könnten nicht allzu erfreut sein, einen Brief von einem Internierten zu erhalten, besonders wenn die ausländerfeindliche Stimmung in Australien immer noch stark und ständig im Zunehmen sei«.
Ein Regierungsbericht ermittelte später, dass die Durchsetzung der australischen Bestimmungen zu Ausländern aus Feindstaaten eine Bandbreite von »unnötiger und anmaßender Intoleranz« bis zu »Laxheit« umfasst habe. Anne hatte zum ersten Mal im Juli 1940 mit der Polizei zu tun, als sie eine neue Aufenthaltsbewilligung brauchte. Sie berichtete, sie habe von einem »besonders netten« Polizisten »ganz leicht« die Bewilligung erhalten. Einen Monat später erschienen zwei Beamte eines Samstags in der Wohnung, um sie zu durchsuchen und Gretl, Kathe und Anne zu befragen: Die beiden blieben zum Nachmittagstee und waren »sehr nett«. Zur Freude der drei entschieden die Beamten, ihnen keine besonderen Beschränkungen aufzuerlegen, und erlaubten ihnen, weiterhin das Radio zu benutzen, vor der Ära des Fernsehens ein besonders wichtiges Kommunikations- und Unterhaltungsmittel. Sie schlossen, dass Anne, wie Gretl und Kathe, eine »loyale australische Staatsbürgerin« geworden sei.
Etwas besorgter waren die australischen Zensoren, als sie einen Brief an Kathe von einer ihrer Wiener Freundinnen abfingen, die nach England geflüchtet war. Es war zwar nur von gemeinsamen Freunden die Rede, ebenfalls Flüchtlinge, doch die Zensoren berichteten, »an vielen Stellen in verschiedenen Briefen seien ungewöhnliche und anscheinend unnötige Striche zu bemerken«, die ihrer Ansicht nach »eine versteckte Botschaft enthalten könnten«. Der Geheimdienst forderte Kathe umgehend auf, im Hauptquartier in der Stadt vorzusprechen, was sie an ihre Erfahrungen in Zimmer 383 des Hotel Metropol zwei Jahre zuvor erinnert haben mag. Dieses Mal durfte sie nach einer kurzen Befragung durch einen Leutnant, der sie als »harmlos« einstufte, wieder gehen.
Gretls Geheimdienstakt wurde umfangreicher, nachdem manche Bürger infolge dieses Klimas gesteigerter Angst und zunehmenden Misstrauens Informationen über Flüchtlinge zu liefern begonnen hatten. Die bemerkenswerteste Episode betraf einen Mann, der im selben Haus in Rose Bay eine Wohnung gemietet hatte. Als Mr. Dunlop einen Zettel mit deutscher Schrift fand, »folgerte er, das habe mit Mrs. Gallia zu tun, und hielt es für seine Pflicht, die Abteilung zu informieren«. Er berichtete auch, die Gallias würden ihr Radio benutzen, das feindliche Ausländer ohne Sondergenehmigung nicht hören dürften. Der Leutnant, der sich mit dem Bericht befasste, fand heraus, dass Gretl versuchte, eine ihrer Freundinnen aus Österreich herauszuholen. Das Radiohören ignorierte er, und Gretl machte es auch bald legal, als sie als einer der wenigen Flüchtlinge eine Lizenz erhalten konnte; behilflich dabei war ihr, dass sie sich auf Sir Harry Luke, den Gouverneur von Fidschi und damit eine hochgestellte britische Autorität, berufen konnte.
Kathes Beziehung zu einem Chemielehrer am Sydney Technical College war eine andere Sache. Annes Tagebuch enthüllt, dass Mr. Rawson gelegentlich Kathe in Begleitung seiner Frau traf, meist aber allein, wobei er manchmal frühmorgens kam und spätabends ging, und das bis zu dreimal pro Woche. Wie sich Anne erinnerte, traf Mr. Rawson Kathe
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