Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
ihnen verbracht hatte. Mrs. Ferguson wollte noch mehr für Gretl, Kathe und Anne tun und regte Richter Ferguson an, ihnen zu helfen. Als Gretl ihm später für sein »freundliches Interesse und manchen guten Rat« dankte, beschrieb sie ihn als den »ersten Freund, den wir in Sydney fanden«.
Saul Symonds war ein australischer Jude der zweiten Generation, von britisch-russischer Herkunft, vor allem bekannt als Präsident der Großen Synagoge, Gründungsvorsitzender des Jüdischen Beirats und Exekutivmitglied der Jüdischen Wohlfahrtsgesellschaft. Als Gretl in deren Büro kam und erklärte, sie sei katholisch und wolle nicht unter falschen Voraussetzungen die Hilfe der Gesellschaft annehmen, machten ihre Aufrichtigkeit, ihre untadeligen Manieren und ihre Kultiviertheit Eindruck auf Symonds, der sie seiner Familie vorstellte. Ihre Freundschaft war umso außergewöhnlicher, als die Wohlfahrtsgesellschaft, wie vergleichbare Organisationen in den Vereinigten Staaten auch, die Flucht der europäischen Juden vor den Nazis sehr zwiespältig betrachtete. Wie der ehrenamtliche Schriftführer später zugab, wollte die Gesellschaft »den Flüchtlingen helfen, aber mit ihnen nichts zu tun haben«; die Mitglieder »hätten auf offizieller Basis alles getan, wenig aber auf einer persönlichen«.
Feindliche Ausländer
DER KRIEG VERÄNDERTE Gretls, Kathes und Annes Status ein weiteres Mal. Nur fünf Tage nach seinem Beginn brachte die australische Regierung ein neues Gesetz zur nationalen Sicherheit ein, wodurch alle in Australien lebenden Deutschen und Österreicher von Ausländern, die beinahe dieselben Rechte und Freiheiten genossen wie normale Bürger, zu »feindlichen Ausländern« und einer Unzahl von Einschränkungen unterworfen wurden. Die Regierung ging von der Annahme aus, dass einige dieser Deutschen und Österreicher Anhänger Hitlers seien und deshalb unter besondere Beobachtung gestellt werden müssten. Eine solche Annahme hatte zwar ihre Berechtigung, was die Deutschen und Österreicher betraf, die nicht als Asylsuchende nach Australien gekommen waren, die Flüchtlinge jedoch als Feinde einzustufen, war bizarr, wenn doch die Umstände, unter denen sie aus Europa geflüchtet waren, aus ihnen aufrechte Antifaschisten machten. Es widersprach auch Australiens eigenen militärischen Interessen, da viele der Männer nur zu gerne gegen die Nazis gekämpft hätten; ihre Einstufung als feindliche Ausländer aber hinderte sie daran, sich zum Kriegsdienst zu melden.
Die Gallias unterstützten die australischen Kriegsanstrengungen, so gut sie konnten. Sie strickten, so wie Gretl es im Ersten Weltkrieg getan hatte. Als Beitrag zur Landesverteidigung schenkten sie der Armee ein Zeiss-Fernglas, und sie spendeten regelmäßig beim Roten Kreuz Blut. Unterdessen kamen sie dem neuen Gesetz nach und ließen sich als feindliche Ausländer registrieren, sie trugen ihre Ausweise ständig bei sich und mussten sich einmal pro Woche bei der örtlichen Polizeistation melden. Anne erwähnte diese Bedingungen zwar nicht in ihren Tagebüchern, das könnte darauf hinweisen, dass sie sich nicht betroffen fühlte; eine autobiografische Geschichte, die sie einige Jahre später verfasste, lässt aber anderes vermuten. Sie beschrieb, wie sie »bei der Polizei vorsprechen musste, um eine Karte zu holen, die ihr mitteilte, dass sie Ausländerin war. Sonst geschah nichts, und doch vermittelte ihr das mehr als alles andere den Umstand, dass sie eine Fremde in einem fremden Land war.«
Die rasche Eroberung der Niederlande, Belgiens und Frankreichs durch die Deutschen Mitte 1940 fachte Ängste über die Flüchtlinge noch stärker an. Geschichten von einer »Fünften Kolonne« häuften sich, die neue britische Regierung unter Winston Churchill internierte oder deportierte 30.000 feindliche Ausländer, darunter viele Juden. In Australien rief die Regierung von New South Wales das Commonwealth auf, alle Ausländer aus Feindstaaten wegen ihrer Verwicklung in »verräterische Propaganda«, »der wahrscheinlichen Existenz von Verschwörungen, um die Kriegsanstrengungen zunichte zu machen«, und weil die Tatsache, dass sie sich auf freiem Fuß befanden, »die Öffentlichkeit in Beunruhigung versetze«, zu internieren. In den nächsten beiden Jahren sammelten etliche Gruppen Tausende Unterschriften auf Petitionen, die diesen Aufruf unterstützten; das Commonwealth ging zwar nicht darauf ein, unterwarf die Flüchtlinge aber immer strengeren Kontrollen und
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