Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
kurze Zeit zu vergessen, doch das war nur ein flüchtiges Innehalten. Paul hatte zwar anfangs berichtet, er habe viele französische und österreichische Freunde, doch er beschrieb sich trotzdem als sehr einsam, und sein Kreis wurde bald kleiner, als etliche seiner Freunde nach Paris zogen. Der engste Freund, der in Toulouse blieb, war ein Österreicher, der Menschenrechte lehrte. Paul war überrascht, als sein Freund eines Abends im Jahr 1948 aus heiterem Himmel über seine Beziehung zu Gott zu sprechen begann. Er beging in derselben Nacht Selbstmord. Paul versuchte, bei seinem Begräbnis die Grabrede zu halten, doch er brachte es nicht zustande.
1950 brach er auf einer Straße in Toulouse zusammen und wurde bewusstlos ins Krankenhaus gebracht. Als er sich 14 Tage später genügend erholt hatte, um Gretl zu schreiben, gab er zu, seit langem nicht mehr zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden zu können; die Ärzte schrieben seinen Zustand der Tatsache zu, dass er zu viele Beruhigungs- und Schlafmittel genommen habe. Zumindest hatte Paul im Krankenhaus Gesellschaft. Als er ein paar Wochen später neuerlich an Gretl schrieb, hatten ihn ein Rabbiner und ein Bischof besucht; das hatte ihn gefreut, denn seine Erfahrungen im Krieg hatten seine Einstellung gegenüber dem Katholizismus verändert. Er glaubte zwar nicht an Gott, doch er war Judentum wie Christentum gegenüber offen. Anne berichtete, Paul habe versucht, sich umzubringen, das sei ihm aber missglückt.
Es ist offensichtlich, in welch furchtbarer Lage er war. Paul war ein am Boden zerstörter, gebrochener Mann, mit ruinierter Gesundheit, geschrumpften Muskeln, außerstande, sich an neue Gegebenheiten anzupassen, von Depressionen geplagt, unfähig, einer Arbeit nachzugehen. Anne half ihm wie Anni Wiesbauer in materiellem Sinn. Nachdem er geschrieben hatte, die Ärzte hätten ihm geraten, mehr zu essen, doch er könne die nötigen Lebensmittel nicht beschaffen, da er auf dem Schwarzmarkt nichts kaufen könne, schickte ihm Anne ebenso wie Gretl Essenspakete. Sie bat sogar um seine Maße und strickte ihm eine Weste. Doch während sie ihre tiefe Bindung an Anni deutlich erkennen ließ, hatte sie für Paul weder Liebe noch Zuneigung übrig. Ob zu Recht oder nicht, sie war der Meinung, er habe sie als Mädchen im Stich gelassen, und konnte ihm, obwohl es ihm so schlecht ging, nicht verzeihen.
Die Kluft zwischen ihnen versuchte Paul unter anderem dadurch zu überbrücken, dass er ihr ein neues Gefühl für ihre Familie vermitteln wollte und von seinen Eltern und Großeltern erzählte, die alle vor ihrer Geburt gestorben waren. Anne hob diese Briefe zwar auf, aber Pauls Familiengeschichte interessierte sie nicht. Sie hatte sich in Wien stets als eine Gallia gesehen und war in Sydney schließlich dazu geworden, sie hatte kein Interesse daran, etwas über die Herschmanns zu erfahren, geschweige denn sich ihnen zugehörig zu fühlen. Auch auf andere Art versuchte Paul, Gemeinsamkeiten mit Anne zu finden, indem er sich über deutsche Literatur und deutsches Theater verbreitete. Er bezog sich auf das, was er als junger Mann gelernt hatte, und hoffte, Anne, die eben das Masterstudium in Deutsch an der Universität Sydney begonnen hatte, zu fesseln. Aber sie fand das, was er schrieb, bestenfalls belanglos, im schlechtesten Fall grotesk, besonders sein Eintreten für Ibsens »Gespenster«, das sie als ein Stück las, in dem »die Heldin [...] mit einem schrecklichen Mann verheiratet gewesen war, so schrecklich, dass sie ihren Sohn fern von zuhause großzog, damit er keinen Kontakt zu seinem Vater hatte«. Anne bemerkte: »Angesichts dessen, dass er unbedingt Kontakt zu mir haben wollte, eine sehr eigenartige Wahl.«
Ein einziges Mal zeigte sie Interesse an Paul; 1971 fuhr sie nach Freiburg im Breisgau, wo er Chemie studiert hatte, und hob seine Doktorarbeit aus. Sonst wollte sie mit ihm nichts zu tun haben. Ihre letzten Worte in Sachen Paul lauteten: »Mein Vater starb 1958 in Toulouse. Nach seinem Tod erhielt ich einen Brief von einem Rabbiner in Toulouse, der den Vorschlag machte, wir sollten zu seinem Gedächtnis einen entsprechenden Grabstein errichten lassen. Doch das fiel mir gar nicht ein. Ich hatte nie das Gefühl, dass er mir ein Vater gewesen war, und der Kontakt, den ich mit ihm gehabt hatte, war ohnehin minimal. Ich hatte keine Ahnung, welche Vorstellung er in Bezug auf sein Grab hatte, und meine Beziehung zu Friedhöfen ist ambivalent. Als ich Anfang
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