Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
der Achtzigerjahre in Toulouse war, habe ich keinen der Friedhöfe dort aufgesucht, um sein Grab zu suchen.«
Eric
MENSCHEN, DIE ALS Kinder vor Hitler flohen, heirateten oft wieder Flüchtlinge. Eine amerikanische Studie lässt vermuten, dass es bei beinahe der Hälfte derer, die in die USA kamen, so war. In Australien war die Zahl möglicherweise noch höher, da die Gesellschaft viel weniger kosmopolitisch war und weit mehr Angst vor Fremden hatte. Anne machte sich selbst Vorwürfe, dass sie sich nicht anders verhalten hatte. Als junge Frau in Sydney, so schrieb sie, habe sie gewusst, dass es »nicht ratsam sei, jemanden mit einem ähnlichen Hintergrund zu heiraten«. Es war ihr auch klar, dass es wegen ihrer Herkunft nur geringe Aussicht auf eine Ehe mit einem »echten Australier« geben würde. Eine Begebenheit aus dem Jahr 1942 war aufschlussreich. Eines Abends lernte sie bei einer Tanzveranstaltung einen jungen Soldaten der Luftwaffe kennen, der keine Ahnung hatte, woher sie stammte, da sie inzwischen akzentfreies Englisch gelernt hatte. Sie unterhielten sich lange und tanzten vergnügt miteinander. Dann verriet sie, dass sie aus Wien kam, worauf er zu ihrem Kummer jegliches Interesse verlor.
Mein Vater Erich kam mit seinem Vater Eduard, seiner Mutter Edith und seinem Bruder Friedrich nach Australien, nachdem die Nazis Eduard aus Dachau entlassen hatten. Wie beinahe alle Männer, die die Nazis dort nach der »Kristallnacht« festhielten, durfte Eduard im Winter gehen. Die meisten Grazer kamen Anfang Dezember nach drei Wochen Haft frei, diejenigen aber, die man geschlagen hatte – wie Eduard –, erst später; man entließ sie erst, wenn ihre Verletzungen teilweise verheilt waren. Damals machten die Nazis sich noch Gedanken über ihr Ansehen im Ausland. Als Edith schließlich hörte, dass ihr Mann entlassen werden könnte, ging Erich jeden Morgen zum Grazer Bahnhof, damit jemand da war, um Eduard abzuholen. So ging er Tag um Tag, vergeblich, bis eines Morgens Eduard auftauchte.
Die Männer, die Ende 1938 aus Dachau freikamen, waren die letzten Insassen eines Konzentrationslagers, die je von den Nazis entlassen wurden. Wie bei Käthe, als sie das Polizeigefängnis in der Hahngasse verlassen durfte, war die Bedingung, dass sie aus Großdeutschland ausreisen mussten. Bei Eduard war das möglich, da die von der australischen Regierung ausgestellten Landegenehmigungen für seine Familie am Tag nach seiner Festnahme in Graz eingetroffen waren. Im April 1939 waren Eduard, Edith, Erich und Friedrich bereit zur Abreise, sie blieben aber noch so lange in Graz, dass sie den Beginn des Pessachfestes mit Eduards Eltern, Salomon und Bertha, sowie seinem Bruder und seiner Schwägerin, Berthold und Else, feiern konnten, die keine Möglichkeit zur Flucht hatten. Dann fuhren Eduard, Edith, Erich und Friedrich mit dem Zug quer durch Deutschland nach Ostende, wo sie das Schiff nach England nahmen; von dort reisten sie Zweiter Klasse per Schiff nach Australien. Als sie im Mai in Sydney ankamen, wurden sie von Eduards Schwester Mira und ihrem Mann Fritz abgeholt, die geflohen waren, während Eduard in Dachau war. Nach kurzer Zeit gab es keine Bonyhadys mehr in Graz; die Nazis zwangen Salomon, Bertha, Berthold und Else, nach Wien zu ziehen – Graz sollte »judenrein« werden. Ende des Jahres starb der 78-jährige Salomon eines natürlichen Todes, bald danach folgten die 76-jährige Bertha und einer von Eduards Brüdern, Norbert, den die Nazis aus einem Fenster stießen. Bis Kriegsende hatten sie noch mehr Blutzoll entrichtet: Berthold und Else, Norberts Frau Alice und der zehnjährige Sohn Gerard, ebenso eine von Ediths Schwestern, ihr Mann und einer ihrer Söhne wurden von den Nazis ermordet.
Hätte es keinen »Anschluss« gegeben, wäre Erich in seiner Grazer Schule geblieben, hätte maturiert, dann studiert und schließlich höchstwahrscheinlich einen qualifizierten Beruf ergriffen. In Sydney absolvierte Eric (so sein neuer Name) nicht einmal die Zwischenprüfung am Ende der dritten Klasse Oberstufe, ganz zu schweigen von einem Abschluss. Stattdessen steckte ihn sein Vater für sechs Monate in die zweite Klasse einer öffentlichen Schule und schickte ihn dann in die Fabrik einer österreichischen Flüchtlingsfamilie, wo er als Industriearbeiter an einer Metallpresse beschäftigt war, dann als Werkzeugmacherlehrling in einer kleinen, von drei Österreichern betriebenen Fertigungsstätte. Bald fühlte sich Eric wie viele andere
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