Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
sie Anne im September. »Also erstirbt wie bei vielen Tausend anderen auch bei ihm langsam die Hoffnung; es ist schrecklich anzusehen.« Einen Monat später schrieb Erika: »Seine Mutter, seine zwei Brüder und zwei Schwestern sind am Leben und wohlauf. Sein Vater ist in Auschwitz umgekommen.« Ihr Fazit war pragmatisch: »So schrecklich der Tod seines Vaters ist, Otto kann sich immer noch glücklich schätzen, dass der Rest seiner Familie gerettet ist.«
Hans Troller schrieb wieder Ende 1945, nachdem er mit seinem Onkel Norbert wiedervereint war, der zusammen mit Hans’ Vater, Mutter und Brüdern in Theresienstadt gewesen war und mehr über deren Tod wusste. »Laut der genaueren Information«, schrieb Hans, »die ich von Norbert erhalten habe, fürchte ich, dass es absolut keine Hoffnung gibt. Ich bin der einzige Überlebende aus unserem Familienkreis. Von etwa zwanzig Personen aus der engeren Verwandtschaft in der Tschechoslowakei sind nur drei zurückgekehrt.« Für Hans war es unmöglich, nachzuerzählen, was Norbert ihm berichtet hatte: »Die Geschichten, die er mir erzählt hat, waren unglaublich entsetzlich und ich möchte, wenn es irgend geht, nicht daran denken.« Er schloss: »Vielleicht erzähle ich euch, wenn ich euch irgendwann einmal sehe, etwas über den ›Untergang des Hauses Troller‹.« Doch Anne sah Hans nicht wieder; er war einer der vielen Flüchtlinge, die sich das Leben nahmen, entweder bald nach ihrer Flucht, wie Stefan Zweig 1942, oder viele Jahre später, wie Hans 1969.
Das Kriegsende ermöglichte es Gretl, Kathe und Anne, mit den wenigen Wiener Freunden wieder Kontakt aufzunehmen, die sie nach dem »Anschluss« nicht fallenlassen hatten. Nachdem sie fünf lange Jahre nichts gehört hatten, wollten sie unbedingt wissen, ob diese Freunde überlebt hatten und ob sie etwas für sie tun konnten, herrschte doch in Wien Chaos, die meisten Dienstleistungen funktionierten nicht, dazu gab es Lebensmittelmangel. Am wichtigsten für Gretl und Kathe waren die Schwestern Moll, die Gretls Schmuck versteckt und Gretl und Anne vor der Fahrt in die Schweiz am Bahnhof verabschiedet hatten; auf der Überfahrt nach Sydney hatten sie ihnen immer wieder geschrieben. Für Anne war ihre Lehrmeisterin im Spitzenreinigen, Anni Wiesbauer, am wichtigsten. Als Anne ihr zum ersten Mal schrieb und sie fragte, ob sie Hilfe brauche, antwortete Anni, sie habe vierzehn Tage lang am Stadtrand beim Endkampf um die Stadt die Gefechte miterlebt und deshalb einen Nervenzusammenbruch erlitten; sie habe monatelang geweint und nicht arbeiten können. Nun habe sie aber wieder das Gleichgewicht gefunden und fühle sich, als erhole sie sich von einem bösen Traum. Wien beschrieb sie trotzdem als eine Stadt, wo das Leben noch nie so schwierig gewesen sei, nicht einmal zu Ende des Ersten Weltkriegs, das Anni als junges Mädchen miterlebt hatte. Mit einem Meter siebzig Körpergröße wiege sie nur noch 47 Kilo. Sie bat Anne, ihr Konserven und Tee zu schicken.
Im nächsten Jahr kamen von Anni manchmal Nachrichten, die klangen, als ob es ihr immer noch nicht besser gehe. Sie konnte keinen Frieden finden, zweifelte, ob sie jemals wieder glücklich sein werde, sah kein Licht am Horizont, dachte, die Menschen hätten sich zum Schlechteren verändert, zweifelte am Wert des Lebens und stellte sich vor, wie schön es wäre, am Morgen nicht mehr aufzuwachen. Zu anderen Zeiten behauptete sie, sie habe sich gefangen und sei glücklich – zumindest, wenn sie Tag und Nacht arbeitete und nie die Zeitung las, um so wenig von der Welt mitzubekommen wie möglich. Immer wieder äußerte sie ihre Scham, wie ein Bettler um Fett und Fleisch, Kakao und Marmelade zu bitten, trotz Annes offenkundiger Freude, sich für das, was Anni vor dem Krieg für sie getan hatte, revanchieren zu können. Sie schickte alle vierzehn Tage insgesamt neunzehn Esspakete, die Anni vor Freude weinen ließen und ihr neue Hoffnung und Zuversicht gaben.
Und was war mit Paul Herschmann? Anne und Gretl müssen sich das gefragt haben. Als Gretl 1940 von der australischen Sicherheitspolizei befragt wurde, beschrieb sie Pauls Aufenthaltsort als »derzeit unbekannt«. Nach Kriegsende hatten Anne und Gretl die Möglichkeit, mittels einer der Agenturen, die durch den Krieg getrennte Familien wieder zusammenführten, nach ihm zu suchen, ebenso wie er es hätte tun können. Bis Anne die Briefe neuerlich las, die er ihr geschrieben hatte, nachdem sie wieder in Kontakt waren, hatte sie
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