Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
gedacht, er habe nach ihr gesucht. Doch nach der neuerlichen Lektüre hielt sie es für »am wahrscheinlichsten«, dass Gretl, die irgendwie immer noch an Paul hing, ihn gesucht hatte. Dass es Anne gewesen war – dies ging aus Pauls Briefen deutlich hervor –, ergab für sie keinen Sinn, da sie doch immer gedacht hatte, sie habe »eine Kindheit ohne Vater« gehabt.
Sein erster Brief kam im Jänner 1948 aus Toulouse, wohin er gezogen war, nachdem er den Krieg in dem Kloster in Graulhet überlebt hatte. Er schrieb, er sei »ganz erschüttert« gewesen, als er am Tag zuvor erfahren habe, wo sie sei. »Auch heute«, fuhr er fort, »kann ich mich vor Freude gar nicht fassen, denn ich hatte die Hoffnung, von Dir jemals noch Nachricht zu bekommen, aufgegeben.« Paul erzählte dann, dass sein Bruder Franz in Auschwitz vergast und sein Bruder Gustav in Minsk umgebracht worden war, dass seine Tante Elisabeth in Theresienstadt gestorben war, sein Bruder Otto in Südamerika lebte und dass sein eigenes Überleben das Resultat einer »merkwürdigen Verkettung seltsamer Umstände« sei. Er bat Anne, Gretl seine herzlichsten Grüße auszurichten, ihm bald ausführlich zu schreiben und ihm ein Foto zu schicken. Er schloss: »Es umarmt Dich, Dein Vater.«
Anne antwortete, als habe Paul sich ihr aufgedrängt. Sein Brief war nicht »theatralisch«, aber so beschrieb sie ihn in ihrem Tagebuch. Sie antwortete zwar umgehend, ebenso wie Gretl aus Armidale; doch während Gretl Zuneigung und Mitgefühl erkennen ließ, sodass ihr Brief Paul mehr berührte als alle anderen seit dem Krieg, war er schockiert von Annes gleichgültigem Bericht, ohne jede Zuneigung, ohne ein Anzeichen einer Beziehung zwischen einer Tochter und ihrem Vater. Paul gab zwar zu, dass er nicht in der Lage sei, Anne zurechtzuweisen, »denn wir haben uns ja leider nie ganz gehabt«, doch er wünschte verzweifelt, dass sie sich ihm anvertraute.
Sie lehnte ab und erklärte, warum; sie warf ihm vor, sie in den letzten Jahren in Wien kaum besucht zu haben, und wahrscheinlich noch so einiges, worauf er keine Antwort wusste. Er erklärte zwar, sich nicht auf Beschuldigungen oder Verteidigungen einlassen zu wollen, tat es aber dann doch. Er schrieb, er habe sie oft und gern besucht, als sie noch klein war, obwohl es manchmal nicht leicht gewesen sei, dass er aber später das Gefühl gehabt habe, sie brauche ihn nicht mehr, und er habe sich seinem lieben Kind nicht aufdrängen wollen. Er wollte, dass sie einsah, wie sehr sie beide sich inzwischen verändert hätten, und bat sie, wieder zu schreiben und ihn kennenzulernen, denn er gehöre zum Rätsel ihres Lebens, und wenn sie in ihr Inneres blicke, werde sie ihn dort finden.
Er konnte sie nicht überzeugen. Im September war er so verstört, dass er Gretl seinen Kummer klagte; der Grund war ein Brief Annes, in dem sie gemeint hatte: »Ich habe gar nicht das Gefühl, dass er an meinen Vater gerichtet ist.« Pauls Verletztheit war spürbar, als er Gretl fragte: »Wenn dem so ist, weshalb hat sie mich dann gesucht?« Er schloss: »Wenn ich auch gefehlt habe, so war ich doch der Meinung, dass man sich über so unendliches Leid, nach dem Verlust meines geliebten Bruders und Freundes Franz die Hand reichen müsse.«
Paul in Toulouse. Februar 1948.
Paul beschrieb in diesen Briefen, dass er, seitdem er aus Wien weggegangen war, durchschnittlich drei Kilo pro Jahr, insgesamt 27 Kilo, verloren hatte. Er verriet, dass er nicht nur Injektionen bekam – er sagte nicht, welche –, sondern auch mit Elektroschocks (»Elektrisierungen«) behandelt worden war, und enthüllte, dass er ständig an das letzte Mal denken musste, als er Franz gesehen hatte, und beinahe jede Nacht von dessen Tod in Auschwitz träumte. Als Gretl ihm aus Sydney ein Foto von sich schickte, meinte er, sie sehe aus wie immer, sie hingegen muss geschockt gewesen sein, als er ihr eines von sich sandte, eingefallen, hohlwangig wie er war. Als Gretl ihn bat, etwas Privateres zu schreiben, entgegnete er, er habe »fast gar kein persönliches Leben mehr«.
Dass Pauls jüngster Bruder Otto in Argentinien überlebt hatte, half wenig, um das Gefühl von Verlust und Isolation zu erleichtern, das er als einziges verbliebenes Familienmitglied in Europa empfand. Als Paul einmal für längere Zeit keine Nachricht von Otto erhielt, wagte er es nicht zu schreiben, da er einen weiteren Schicksalsschlag befürchtete. Manchmal, wenn er Vorträge oder Opern besuchte, gelang es ihm für
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