Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
»unzurechnungsfähig«, Szenen zu machen und Konflikte heraufzubeschwören, wenn er mit Freunden und Bekannten der Molls und Schindlers zusammen sei. Wenn es aber um seine Arbeit ging, das war ihr klar, waren diese Befürchtungen nur zu begründet. »Der arme Kerl ist krank durch die antisemitischen Hetzjagden«, bemerkte Alma 1900, als Pollak über ein Jahr lang Abteilungssekretär gewesen war. »Weiss Gott, ich möchte nicht als Jüdin geboren sein.«
Viele von Almas weiteren Eintragungen erklären, warum das so war. Sie fühlte sich zwar zu Juden hingezogen, fand es aber nicht leicht, sie zu akzeptieren. Ihre Abneigung gegen Fritz Wärndorfer, den Gründer der Wiener Werkstätte, fasste sie in die Worte »ein frecher Jud«. Sie entwickelte eine Leidenschaft für den Komponisten Alexander Zemlinsky, doch eine Postkarte aus dem jüdischsten Wiener Bezirk, der Leopoldstadt, ließ sie dennoch grübeln: »Ob er zu den kleinen Halbjuden gehört, die ihr ganzes Leben nicht von ihrer Judenschaft loskommen?« Als sie hörte, Zemlinsky habe sich mit einer anderen Frau verlobt, wütete sie: »Jüdischer Feigling! Behalt dein krummnasiges Judenmädel. Die passt zu Dir«, und ließ ihre Verstörtheit erkennen, als sie sich fragte, ob sie »ein semitisches Geldungeheuer« heiraten solle.
Dass Alma einen Juden heiraten würde, lag so nahe, dass es zum Gesprächsstoff unter ihren Freunden und Bekannten wurde. Bei einem Abendessen, bei dem die Architekten Josef Hoffmann und Joseph Maria Olbrich sowie Koloman Moser zugegen waren, flehte der deutsche Sänger Hans Oberstetter Alma an, »nur ja keinen Juden zu heirathen«. Ein weiterer ihrer Bewunderer, Max Burckhard, folgte diesem Beispiel, als Almas Romanze mit Zemlinsky intensiver wurde, nachdem sich herausgestellt hatte, dass er sich doch nicht mit seinem »Judenmädel« verlobt hatte. Als Burckhard Alma warnte: »Aber nur heirathen thun Sie den Z. nicht. Verderben Sie nicht die
gute
Rasse«, stimmte sie ihm zu. »Er hat recht – mein Körper ist 10mal zu schön für den seinen«, meinte sie, obwohl sie zugab, »dass seine Seele 100 mal zu schön für die meine sei, daran dachte ich nicht.« Es gab zwar Zeiten, in denen Almas Verlangen nach Zemlinsky so groß war, dass sie fühlte: »Kinder möcht’ ich ihm gebähren. Sein und mein Blut. Vermischt«, doch sah sie zwischendurch ein fundamentales Hindernis: »Kinder von ihm – kleine, degenerierte Judenkinder zur Welt bringen.«
Konvertiten zum Christentum betrachtete sie ganz ähnlich; das Judentum war für sie eher eine Sache der Rasse als der Religion, ein Übertritt änderte nichts daran. Obwohl der Komponist Felix Mendelssohn mit sieben Jahren getauft worden war, betrachtete ihn Alma nach wie vor als Juden. Die meisten der Freunde Mahlers, die sie als »prononcierte Juden« bezeichnete, waren Konvertiten. Das galt auch für Mahler, was sie bemerken ließ: »Da ist so viel, was mich an ihm stört, sein Geruch, seine Art zu singen, irgendetwas an seiner Sprechweise.« Zugleich sehnte sie sich danach, mehr noch als bei Zemlinsky, ihn nicht nur zu lieben, sondern auch ein Kind von ihm zu empfangen. »Ach – ein Kind von ihm! Sein Inneres. Mein Äusseres. Nur schon ihm gehören!« Im März 1902, als sie heirateten, war Alma im ersten Monat schwanger.
Als Alma zusammen mit ihrer Mutter Anna und ihrem Stiefvater Carl Moll zum ersten Mal Hermine und Moriz in deren Wohnung in der Schleifmühlgasse besuchte, betrachtete sie sie mit Verachtung. Sie notierte nur, welch großzügige Gastgeber die Gallias seien, ihre Korpulenz und ihre Rasse; das lässt vermuten, dass sie, die Vergnügen an intellektuellem Austausch hatte, nicht interessierte, was Hermine und Moriz zu sagen hatten. Sie schrieb: »Abends bei Gallia. Kaviar, Champagner und ein feistes Judenehepaar«; »wie geschaffen für Rud. Wilke«; sie meinte den als begabtester Zeichner des führenden deutschen Satiremagazins
Simplicissimus
geltenden Künstler, in dessen Bildgeschichten es von beleibten Juden wimmelte.
Dieser Eintrag wirft etliche Fragen auf. Bemerkten Hermine und Moriz, was Alma an diesem Abend durch den Kopf ging? Dachte Alma immer noch so, als Moriz und besonders Hermine sie allmählich öfter trafen? Teilten Anna und Carl Moll ihre Meinung? Und wie reagierten Hermine und Moriz auf andere Wiener, die noch viel antisemitischer eingestellt waren? Ich stelle mir vor, dass die beiden, ebenso wie Alma äußerst empfindlich gegen das Jüdische war, wo immer sie es
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