Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
weniger Vermögen zu bewahren, setzten diese Vorgangsweise aber gegen Ende des Jahrhunderts fort, als Verwandtschaftsehen schon seltener waren. Zwei von Hermines Cousins und Cousinen heirateten, eine weitere heiratete einen Cousin zweiten Grades; Moriz und Hermine wiederum waren Onkel und Nichte. Sie war das älteste Kind und die einzige Tochter seiner ältesten Schwester. Er war zwölf Jahre älter als Hermine, ein normaler Altersunterschied zwischen Männern und Frauen ihrer Klasse.
Als sie nach Wien zogen, wussten Moriz und Hermine sicherlich einiges über die lange Geschichte der Wiener Juden. Wien, die Stadt der Musik, war für Juden ein blutiges Pflaster: 1420 war die gesamte Judengemeinde, damals eine der größten Europas, ausgelöscht worden. Erzherzog Albrecht V. hatte zunächst alle Juden einkerkern lassen und dann viele der ärmeren Juden vertrieben, indem er sie in Booten auf der Donau aussetzte; die reicheren beschuldigte er der Gotteslästerung, um sie foltern und gewaltsam zur Konversion zwingen und sich ihres Vermögens bemächtigen zu können. Hundert Juden begingen in der Hauptsynagoge lieber Selbstmord, als sich der Taufe zu unterwerfen; die Synagoge wurde zerstört. Die verbliebenen 270 Juden ließ Albrecht außerhalb der Stadtmauern auf dem Scheiterhaufen verbrennen.
Ein Jahrhundert später lebten nach einer Überlieferung nur zwölf jüdische Familien in Wien, nach einer anderen waren es bloß sieben, und Juden, die in die Stadt kamen, mussten ein rundes Abzeichen aus gelbem Tuch tragen, »unbedeckt und unversteckt«, um sofort erkennbar zu sein. Im Jahrhundert darauf waren die wenigen jüdischen Familien in Wien Zielscheibe von weiteren Vertreibungen, manchmal gewaltsam, manchmal nicht. In den 1620er Jahren, als es in Wien immer noch nur fünfzig jüdische Familien gab, folgte Kaiser Ferdinand II. dem italienischen Beispiel und schuf ein Ghetto außerhalb des Stadtzentrums; dadurch aber gewannen die Wiener Juden größere Freiheiten, statt verfolgt zu werden. Ferdinand erlegte den Juden zwar auf, im Ghetto jenseits des späteren Donaukanals zu leben, zugleich jedoch standen sie nicht mehr unter der Kontrolle des Magistrats, sie durften in der Stadt Geschäfte betreiben und eine neue Synagoge errichten.
Diese gute Zeit dauerte nicht lange. 1641 unterwarf Ferdinand III. das Ghetto der Rechtsprechung des Magistrats, der sich für die Vertreibung der Einwohner aussprach und den Juden verbot, in der Inneren Stadt Handel zu treiben. 1642, 1649, 1665 und 1668 stürmte der Mob das Ghetto und plünderte es. 1669 ging Leopold I. daran, es zu zerstören; als Gegenleistung entrichtete der Magistrat eine gigantische Summe, um den Kaiser für die Sondersteuern zu entschädigen, die die Ghettobewohner entrichtet hatten. Binnen eines Jahres ließ Leopold alle Wiener Juden vertreiben, ihre Besitztümer wurden enteignet und ihre Synagoge wurde demoliert; auf deren Grundmauern wurde eine Kirche errichtet. Diesmal aber entstand binnen weniger Jahre wieder eine winzige Gemeinde. Ende des 17. Jahrhunderts lebten zehn »privilegierte« jüdische Familien in der Stadt.
In dieser Epoche waren die Juden angreifbar wie eh und je. Durch Religion, Sprache, Kleidung, Kultur, Abstammung und Gesetz waren sie vom Rest der Bevölkerung abgesondert. Sie sprachen Jiddisch, begingen den Sabbat, ihre eigenen religiösen Feste und Feiertage und befolgten ihre eigenen Speisegesetze; die Männer trugen die Kippa, die Frauen bedeckten ihr Haar oder schoren es und trugen Perücken. Sie galten keineswegs als Bürger, sondern wurden als Fremde qualifiziert; so vielen Einschränkungen und Ausschlussmaßnahmen unterworfen, hielten sie sich an die jüdische Gemeinde, um sich ihrer Identität zu versichern, bewahrten ihre Traditionen und befolgten die religiösen Vorschriften.
Kaiser Josef II. lockerte diese Separation durch das 1782 erlassene Toleranzpatent, eine der wichtigsten Maßnahmen der europäischen Aufklärung. Das Edikt befreite die Juden von der Pflicht, den »gelben Fleck« zu tragen, sie durften christliche Schulen und Universitäten besuchen und mit allem Handel treiben. Allerdings waren sie nach wie vor diskriminierenden Steuern unterworfen und vom Beamtentum und vielen Berufen ausgeschlossen. Auch die Zahl der Juden, die in Wien leben durften, blieb nach wie vor festgelegt. Ihre Identität wurde untergraben, da ihnen der Gebrauch des Hebräischen und Jiddischen verboten war, sie durften keine Synagogen errichten oder
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