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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Gemeinde diese Einrichtungen gründete, hörte sie zu wachsen auf und war bald auf dem absteigenden Ast; die Anziehungskraft noch größerer Orte und Städte war zu groß, und so ließen sich Hermine und ihre Eltern in Wien nieder; ihre drei Brüder lebten für längere Zeit ebenfalls hier. Ähnliches geschah in Bisenz, wo die jüdische Gemeinde ihr Selbstbewusstsein 1860 durch den Bau einer neuen Synagoge manifestierte; trotzdem war die Mitgliederzahl gegen Ende des Jahrhunderts auf die Hälfte geschrumpft. Moriz, seine zwei Brüder und drei Schwestern beteiligten sich an diesem Exodus. Anfang der 1900er Jahre lebten keine Gallias mehr in Bisenz.
    Die Zahl der Juden, die nach Wien zogen, war deshalb besonders groß, weil die Stadt die besten Chancen bot und weil die Juden anfangs dort eine von der liberalen Regierung geförderte, nie dagewesene Toleranz genossen. Eine Volkszählung von 1857 verzeichnete 6000 Juden, weniger als eineinhalb Prozent der Einwohner. Bis 1880 waren daraus 72.000 oder zehn Prozent geworden, und dieses Verhältnis blieb bestehen, als die Stadt in den nächsten zwanzig Jahren ständig wuchs. Moriz und Hermine waren unter den Neuankömmlingen. Sie heirateten 1893 im Wiener Stadttempel im ersten Bezirk. Ihre vier Kinder wurden zwischen 1895 und 1899 in Wien geboren und wie sie selbst Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde. Sie waren alle Teil der außergewöhnlichen Transformation Wiens von einer Stadt beinahe ohne Juden zur jüdischsten Stadt außerhalb Osteuropas.
    Wien wurde auch, während das Vorurteil wieder aufkeimte, die einzige europäische Hauptstadt mit einer gewählten antisemitischen Stadtregierung. Die Zunahme des jüdischen Bevölkerungsanteils war ein Faktor, der Neid, mit dem viele alteingesessene Einwohner den wirtschaftlichen Erfolg der Neuankömmlinge verfolgten, ein anderer. Schlüsselfigur war Karl Lueger, Anführer der Christlichsozialen Partei, der Mehrheiten im Reichsrat und in den Landtagen hinter sich scharte und von 1897 bis zu seinem Tod 1910 Wiener Bürgermeister war, die höchste Position in der Habsburgermonarchie, die man durch Wahl erreichen konnte. Es gab viele Gründe, warum die Christlichsozialen die österreichischen Liberalen überholten; die Art und Weise, wie Lueger den Antisemitismus nutzte und legitimierte, war jedenfalls wesentlich für den Erfolg seiner Partei. »Wir in Wien sind Antisemiten«, bemerkte Lueger 1905, als wäre das eine unbestrittene und akzeptable Tatsache.
    Lueger beschuldigte die Juden des Ritualmords. Er bezeichnete sie als destruktives Element, das, wo immer es mächtig werde, jeden Staat zerstöre, und drohte ihnen Pogrome an. In der Praxis aber beraubte er sie weder ihrer Bürgerrechte noch schürte er Angriffe gegen sie, oft arbeitete er sogar mit ihnen zusammen, wenn es zu seinem Vorteil war. Doch während Luegers Zeit als Bürgermeister wurde die Diskriminierung der Juden ärger; es wurde beinahe unmöglich für sie, Geschäftsverträge mit der Regierung abzuschließen, einen Posten im städtischen Beamtentum zu erlangen oder gar befördert zu werden. Dasselbe galt für die k.u.k. Armee und die ältesten, prestigeträchtigsten kaiserlichen Institutionen, wenn auch die neueren Ministerien – etwa das Post- und Eisenbahnministerium – etwas offener waren.
    Theobald Pollak, der ursprüngliche Besitzer des Mahler-Porträts, dem ich zuerst in der Wohnung in Cremorne begegnete, verkörperte die Diskriminierung, der Juden begegneten, und zugleich die Möglichkeiten, die sich ihnen boten. Pollaks Religion bedeutete, dass er nur durch Protektion einen Posten im Eisenbahnministerium erhalten konnte; seine Anstellung verdankte er aristokratischen Bekanntschaften seines engen Freundes, des Malers Emil Jakob Schindler. In seinem Amt erlebte er starke Vorurteile und Verunglimpfungen, stieg aber trotzdem rasch in die oberen Ränge der Abteilung auf und erhielt etliche Titel und Auszeichnungen; er wurde Hofrat, Ritter des Eisernen Kreuzes und Komtur des spanischen Ordens Isabellas der Katholischen.
    Alma Schindler gab einiges von Pollaks Erfahrungen in ihrem Tagebuch wieder. Sie schrieb, seiner Ansicht nach sei die Religion verantwortlich für solch verheerende Zustände; auf ihr Konto gingen Märtyrer und Kreuzzüge und vieles andere Böse in der Welt. Er sei so empfindlich gegenüber dem Antisemitismus, dass er auch dort welchen vermute, wo es keinen gebe, und das veranlasse ihn dazu, »sehr unangenehm« zu werden,

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