Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
konnte Hermine mit einem vorderen Platz in der Prozession rechnen, und so war sie bitter enttäuscht, als die Eltern ihr die Teilnahme verboten. Hermine bewahrte ihre Fleißzettel sorgfältig in zwei Schachteln auf, so wie später Gretl und Käthe und schließlich Anne. Nachdem sie alle jüdischen Gegenstände aus den Haushalten der Gallias und Hamburgers weggeworfen hatten, waren diese christlichen Memorabilien die ältesten Besitztümer der Familie.
Ein Tagebuch mit Vordrucken, das Hermine 1896 kaufte, um die Geburt und frühe Kindheit Gretls zu dokumentieren, zeigt, wie Moriz und Hermine nach ihrem Umzug nach Wien mit den religiösen Ansprüchen der Mehrheitskultur konfrontiert wurden. Die Verleger des Tagebuchs hatten angenommen, die Käufer würden Christen sein, und so waren auf einigen Seiten christliche Gedichte abgedruckt. Eine Seite war einem Tauflied gewidmet, auf einer anderen sollte man von der Taufe des Kindes berichten. Da Moriz und Hermine Gretl eben erst in die Israelitische Kultusgemeinde eingeschrieben hatten, trug Hermine auf dieser Seite ihr Gewicht und ihre Größe ein.
Hermines »liebe Eltern«, wie sie sie immer bezeichnete, waren ein großes Hindernis, als sie ein paar Jahre später erwog, zum Christentum überzutreten. Ihr Onkel Eduard spielte eine führende Rolle beim Bau einer neuen Synagoge in Olmütz, ebenso wie Nathan Hamburger bei der Anlage des jüdischen Friedhofs in Freudenthal; zudem war Nathan Vorsitzender der Organisation, die für den Gebetsraum zuständig war. Moriz war in einer weniger schwierigen Lage, seine Eltern waren beide bereits tot, doch auch er muss das Gefühl gehabt haben, gegen die Tradition zu verstoßen, und sah sich dem Druck der Familie ausgesetzt; außer seinem Bruder Adolf behielten alle seine Geschwister den jüdischen Glauben bei. Was an Belegen noch vorhanden ist, lässt vermuten, dass Moriz in Sachen Konversion viel ambivalenter fühlte als Hermine; es war etwas, das er für sie und ihre Kinder tat, ein Thema, bei dem sie die Führung übernahm und er ihr folgte – einer der vielen Hinweise darauf, welchen Einfluss sie auf ihn ausübte.
Eine starke Zunahme von Übertritten zu Beginn des neuen Jahrhunderts erleichterte es Moriz und Hermine, die Kultusgemeinde zu verlassen. Es war zwar nicht einmal ein halbes Prozent der Wiener jüdischen Bevölkerung, trotzdem war Wien die Stadt, in der die Juden ihre Religionsgemeinschaft rascher verließen als anderswo. Moriz und Hermine kannten sicherlich viele der Konvertiten, von denen eine überproportional hohe Zahl begütert war. Jene, die sich an diesem Exodus beteiligten, schlugen drei Richtungen ein: Ein Viertel tat den kleinsten Schritt und wurde konfessionslos; ein weiteres Viertel, darunter Hermines Bruder Otto, wurde protestantisch (die dominante Religion in Dänemark, wo Otto mit seiner Familie zur Zeit des Übertritts lebte); die restliche Hälfte nahm den römisch-katholischen Glauben an, die Staatsreligion in Österreich. Moriz, Hermine und ihre vier Kinder gehörten zu ihnen, ebenso wie Hermines andere Brüder Guido und Paul.
Viele Erwachsene ließen ihre Kinder schon sehr früh taufen, damit das Christentum von Anfang an zu ihrer Identität gehörte. Auch Moriz und Hermine hielten sich daran und ließen Erni 1902 taufen – er war damals sechs –, gefolgt von Gretl, Käthe und Lene 1903; Gretl mit sechs, die Zwillinge mit vier Jahren. Nach österreichischem Recht mussten Kinder die gleiche Religion haben wie ihre Eltern; Moriz und Hermine umgingen dieses Hindernis, indem sie über die ungarische Grenze in die nur eine Stunde Eisenbahnfahrt entfernte Stadt reisten, die bei den Ungarn Pozsony, bei den Deutschen Pressburg und auf Slowakisch Bratislava hieß. Die Kirche, die sie wählten, war natürlich die prachtvollste, die große gotische Kathedrale des heiligen Martin. Pate der Kinder war jedes Mal der Maler Carl Moll.
Eine solche Vorgangsweise hätte Belastungen und Ärger nach sich ziehen können. Moriz und Hermine blieben zwar Juden, doch sie waren verantwortlich dafür, dass ihre Kinder in die katholische Kirche eintraten und dort ihren Weg gingen. Um die Sache noch komplizierter zu machen, hatten die Kinder in einem Jahr unterschiedliche Religionen. Gretls Tagebücher lassen aber vermuten, dass die Familie diese Komplikationen mit Leichtigkeit meisterte. Die elfjährige Gretl berichtete, wie sehr sie bei ihrer Erstkommunion 1908 von Gefühlen überwältigt wurde, als sie zum ersten Mal den
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