Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Leib des Herrn empfing; sie fragte sich, ob sie jemals wieder so glücklich sein werde. Moriz und Hermine servierten ihr zur Feier des Tages Vanillelikör. Es sei der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Ihre Firmung 1909 war ein noch eindrucksvolleres Ereignis; Hermines drei Brüder waren zugegen, und es gab viele Geschenke. Guido Hamburger und seine Frau Nelly, bereits zum Katholizismus übergetreten, gaben ein Familienfestessen. Otto Hamburger, der Jude blieb, dessen Sohn Robert aber 1903 getauft worden war, schenkte Gretl ein Gebetbuch. Sie war entzückt über ihren neuen christlichen Namen Cornelia, zu Ehren ihrer Firmpatin Nelly. »So viele Namen! Dieser herrliche Tag! Ich bin gefirmt worden!!«, jubelte sie.
Als letzte Familienmitglieder konvertierten 1910 Hermine und Moriz; sie war vierzig, er 52. Nach ihrer Taufe in St. Martin in Pressburg waren die Gallias zum ersten Mal seit acht Jahren eine Familie mit einer einheitlichen Religion. Bald übernahm Moriz noch weitere Verpflichtungen als Katholik: So wie sein Bruder Adolf 1910 Pate von Guido und Nelly Hamburgers erstem Sohn geworden war, wurde Moriz 1912 nun der Pate ihres zweiten Sohnes.
Pater Alexander Gaibl, Domherr von St. Martin, der in Pressburg eine illustrierte katholische Sonntagszeitung herausgab und ein Buch über die Religionsgeschichte der Stadt geschrieben hatte, nahm die Zeremonie vor. Er zelebrierte nicht nur bei den Taufen und Erstkommunionen der Gallias in Pressburg und Wien die Messe, sondern sah die Familie auch bei anderen Gelegenheiten. Ein Opern-, Theater- und Konzertbuch Hermines zeigt, dass Moriz und sie den Neujahrstag 1908 mit Gaibl in der Hofoper verbrachten, wo sie Saint-Saëns’ »Samson et Dalila« sahen – eine merkwürdig stimmige Wahl für einen Priester, der Juden zum Christentum bekehrt; in der Oper geht es um die Tötung des herkulisch starken Hebräers Samson, der von der Philisterin Dalila verraten wurde.
Die führenden Persönlichkeiten der Wiener jüdischen Gemeinde versuchten solche Übertritte zu verhindern, indem sie wöchentlich in den jüdischen Zeitungen der Stadt Listen der Mitglieder veröffentlichten, die die Kultusgemeinde verlassen hatten; damit sollten die Abtrünnigen beschämt werden, andere Juden sollten sie meiden. Aber die Listen vermochten die Konversionen nicht aufzuhalten, sie mögen sie sogar noch befördert haben, weil sie deutlich machten, wie viele prominente Juden ihren Glauben aufgaben. Nachdem Moriz und Hermine sich taufen hatten lassen, hielt er sein Naheverhältnis zu seinen jüdischen Geschwistern und sie zu ihren jüdischen Eltern aufrecht. Sie hatten auch nach wie vor viele jüdische Freunde.
Meine Mutter war der Ansicht, diese Konversionen seien eine Art Wunscherfüllung für Hermine gewesen. Sie sah zwar beinahe alles zynisch, was Hermine tat, ihre Taufe aber sei aus echter Überzeugung geschehen. Anne stellte sich vor, dass Hermine, die »immer in Kontakt mit den Schwestern geblieben war, die sie unterrichtet hatten und die sie liebte«, »ihnen von ihrem Übertritt erzählt hat und dass sie sich sehr darüber freuten«. Allerdings besuchte Hermine die Messe nur höchst sporadisch. Ihr Tagebuch für den folgenden Sommer zählt im Detail auf, was sie unternahm; Messen oder Beichten werden keine erwähnt.
Gaslicht
» HIER KOMMT DR. GALLIA« , verkündet ein Mann, und einige Sekunden später: »Dr. Gallia wird singen«; ein anderer wiederholt das auf Englisch, und dann geht es los.
»Gaudeamus igitur«, beginnt mein Urgroßonkel Adolf laut und klar auf Latein, während er das älteste Studentenlied anstimmt, »De brevitate vitae«, mit seiner Aufforderung, das Leben zu genießen. Doch Adolfs Stimme wird bald immer leiser und dann im Rauschen ertränkt, was bei den frühesten erhaltenen Aufnahmen auf Wachszylindern oft der Fall ist. Außer einigen Wortfetzen – vor allem über neue Technologien wie Telefon und Grammofon – ist auf dem Zylinder nun nichts mehr verständlich, bis das Ende von Adolfs minutenlangem Auftritt durch aufrauschenden Applaus der versammelten Männer und Frauen angekündigt wird. »Bravo!«, rufen sie, »bravo, bravo, bravo!«, dann folgen Gelächter, noch mehr Klatschen und Bravos, als hätten sie eben einen der größten Sänger Europas gehört.
Der nächste Zylinder beginnt mit einer ähnlich formellen Ankündigung des Auftretenden, »Direktor Gallia«, doch hier ist beinahe alles, was folgt, verständlich und klar. »La la la«, singt Moriz voller
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