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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Gemeindeorganisationen gründen.
    Wäre eine solche Behandlung außergewöhnlich gewesen, dann hätten Moriz und Hermine wohl gezögert, bevor sie sich nach Wien aufmachten. Doch bis ins 18. Jahrhundert waren die europäischen Juden an Phasen schlimmer Verfolgung zwischen Perioden relativer Toleranz gewöhnt gewesen. Im besten Fall genossen sie Stabilität, Prosperität und eine beachtliche Autonomie, der Diskriminierung blieben sie aber immer unterworfen. Im schlimmsten Fall brachte man sie um oder sie verloren ihre Heimstätten und ihr Auskommen, wenn man sie zwang, von einem Ort zum anderen zu wandern. Die Juden aus Moriz’ Heimatort Bisenz waren ein Beispiel. 1604 besaßen sie 49 Gebäude, ein eigenes Krankenhaus und sechzehn Weingärten, während den Juden in ganz Europa üblicherweise die Landwirtschaft verschlossen blieb; 1605 ließ dann der siebenbürgische Fürst Stephan Bocskai beinahe die gesamte Gemeinde abschlachten.
    Zweihundert Jahre später war Bisenz eine von 52 mährischen Städten, in denen die Habsburger den Juden das Wohnrecht zugestanden. Sie zählten beinahe tausend Personen, mehr als je zuvor, hatten aber in der Administration der Stadt nichts mitzureden. Stattdessen verwaltete ihre Gemeinde sich selber, mit einem eigenen Gemeindevorsteher, Bediensteten, Ämtern und Schulen. Wie alle mährischen Juden hatten auch die in Bisenz drückende Sondersteuern zu entrichten, waren von vielen Berufen ausgeschlossen und genossen nur eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Sie waren zudem den von Kaiser Karl VI. erlassenen Familiantengesetzen unterworfen; deren Absicht war es, die Zahl der Juden in den böhmischen Kronländern dadurch zu beschränken, dass nur dem ältesten Sohn jeder Familie eine Heirat erlaubt war, und das erst nach dem Tod seines Vaters.
    Hermines Geburtsort Freudenthal verkörperte eine andere Facette jüdischer Erfahrung. Er war eine der vielen mitteleuropäischen Städte, wo seit Jahrhunderten nur wenige oder gar keine Juden lebten. Falls im Mittelalter in Freudenthal eine Judengemeinde existiert hatte, dann hatten deren Mitglieder im Zuge der großen Judenverfolgungen in Schlesien im 15. und 16. Jahrhundert das Land verlassen müssen; bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Habsburger den schlesischen Juden noch strengere demografische Beschränkungen auferlegten als denen in Mähren, dürften auch keine zurückgekehrt sein.
    Kaiser Franz Joseph änderte diese Situation, mehr aus Notwendigkeit denn aus eigenem Willen; es war Teil der umfassenden Verfassungsreformen, die von den europäischen Revolutionen 1848 und Österreichs Niederlage gegen Preußen 1866 ausgelöst wurden. Als Teil der erweiterten Bürgerrechte, die Franz Joseph 1848 seinen Untertanen gewährte, erhielten die Juden nun Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit, ihre Gottesdienste durften legal und offen stattfinden, sie durften Land besitzen, in den Beamtenstand eintreten, auch andere Berufe ausüben und nach Belieben heiraten; die Sondersteuern wurden aufgehoben. Als Franz Joseph 1867 die konstitutionelle Monarchie einführte, erhielten die Juden die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte wie die übrigen Österreicher.
    Die Namen, die viele mährische Juden ihren Kindern gaben, liefern ein Beispiel für ihre Bemühungen, sich der dominanten deutschen Bevölkerung anzupassen. Vor 1848 waren es germanisierte, aber erkennbar jüdische Namen biblischen Ursprungs gewesen, nun rein deutsche. So waren Emmanuel Gallia und Nathan Hamburger typische Namen der einen Generation, Josefine, Wilhelm, Adolf und Moriz (bei den Gallias), Hermine, Otto, Guido und Paul (bei den Hamburgers) bei der nächsten; was sie waren, blieb dadurch allerdings nicht verborgen. Da so viele Juden Moriz als Ersatz für Moses wählten, galt er als jüdischer Name; der Architekt Adolf Loos ätzte: »›surely there must be a Moriz und Siegfried who are Aryans‹ but ›they are exceptions‹.« (Die Emanzipation des Judentums, gesammelte Schriften in Rukschcio Schachel, 70)
    Viele Juden machten von ihren jüngst zugestandenen Rechten Gebrauch und zogen in die Städte, ergriffen neue Berufe und engagierten sich in der aufblühenden kapitalistischen Wirtschaft Europas. Hermines Vater Nathan, geboren in Wischau in Südmähren, gehörte zu einer kleinen Gruppe, die nach Freudenthal zog; dort erwarben sie einen im ersten Stock gelegenen Gebetsraum im Zentrum und legten am Stadtrand einen jüdischen Friedhof an. Doch noch während die

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