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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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antraf, auch ganz genau spürten, wie ihr Jüdischsein ihre Akzeptanz prägte. Sie beobachteten, wo sie aufrichtig angenommen wurden, wo sie nur wegen ihres Geldes toleriert und wo sie unerwünscht, verabscheut oder verhasst waren. Da sie in Wien auf Schritt und Tritt dem Antisemitismus begegneten, ergab sich eines ihrer großen Dilemmas daraus, ob man dieses Vorurteil direkt ansprechen oder es zu ignorieren, ihm einfach zu entkommen versuchen sollte.
    Konversion war eine Möglichkeit. Sie befreite zwar die Juden nicht vom Antisemitismus, aber manchmal erlaubte sie ihnen, Positionen einzunehmen, die ihnen sonst verschlossen geblieben wären. Mahler war das spektakulärste Beispiel. Als er Ende 1896 die Möglichkeit vor Augen sah, Direktor der Wiener Hofoper zu werden, der begehrteste Posten in der europäischen Musikwelt, konnte man ihn nicht nominieren, da der Hof nur getaufte Kandidaten akzeptierte. Im Februar 1897 wurde Mahler Katholik; im April ernannte ihn Kaiser Franz Joseph zum Dirigenten an der Hofoper, im Juli zum stellvertretenden Direktor und im Oktober zum Direktor. Doch diese kaiserliche Imprimatur bewahrte ihn nicht davor, in der antisemitischen Presse angeschwärzt zu werden. Dass Mahler es sich »gerichtet« hatte – wie eine Zeitung seinen Übertritt beschrieb –, machte keinen Unterschied für jene, die der Maxime anhingen: »einmal ein Jud, immer ein Jud«. Empörung herrschte darüber, dass ein »Nichtdeutscher«, noch dazu ein Jude, an der Spitze einer deutschen Kunstinstitution stehen sollte.
    Der zeitgenössische Ausdruck für solche Übertritte lautete »Karrieretaufe«. Er war immer abschätzig gemeint und implizierte, dass Juden ihren Glauben und ihre Gebräuche opferten, um ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aussichten zu verbessern. Viele Juden entsprachen auch diesem pragmatischen Bild, doch handelten sie oft mehr zum Wohl ihrer Familie als zum eigenen. Mahlers Schwester Justine, die bis zu seiner Hochzeit seinen Haushalt führte, äußerte sich ungewöhnlich offen darüber, dass sie konvertiert war, um Gustavs Chancen in Wien zu erhöhen. Justine beschrieb den Vorgang so, als habe sie eine Rolle gespielt, sie verglich ihre Unterweisung im christlichen Glauben damit, ein Gedicht in einer fremden Sprache gelernt zu haben, und rühmte sich, kein Wort davon zu glauben. Doch bei allem Pragmatismus Gustavs erkannte Alma, dass er wegen seiner tiefen Religiosität, die Judentum wie Katholizismus umfasste, ein weit besserer Christ war als sie.

Hermine als Mädchen.
    Hermine war eine der vielen Konvertiten, die vom Christentum tief berührt waren. Ihre Faszination vom Katholizismus hatte in ihrer Mädchenzeit in Freudenthal begonnen; der dortigen kleinen jüdischen Gemeinde fehlten viele der Einrichtungen, die es in Moriz’ Geburtsort Bisenz gab. Hermines Eltern wollten zwar ihre Kinder als praktizierende Juden sehen, doch sollten sie sich auch so gut wie möglich assimilieren. Erziehung war eines der wichtigsten Mittel, dieses Ziel zu erreichen, und so schickten Nathan und Josefine Hermine in die örtliche Klosterschule, die von Deutschordensschwestern betrieben wurde. Hermines Glaube, so hofften ihre Eltern, sollte dadurch bewahrt bleiben, dass sie nicht in katholische Messen gehen oder den Religionsunterricht der Schwestern besuchen durfte, doch diese waren nicht so leicht mattzusetzen; das verrät Hermines Kollektion von mehr als siebzig Fleißzetteln, die sie ab 1879, damals war sie neun geworden, erhielt. Auf manchen dieser Zettel stand nur »Belohnung« oder »Auszeichnung«, oder sie enthielten moralische Belehrungen wie etwa »Fleiß bringt Rosen«, die meisten aber zeigten katholische Bilder und Texte, Abbildungen von Jesus, Heiligen, Engeln und dem Heiligen Herz Jesu mit frommen Sprüchen wie »Gottes Engel Dich bewacht, wie im Tag so bei der Nacht« und »Herr Jesus sei überall gelobt«. Die Schwestern gaben Hermine sogar eine Auszeichnung, die dazu bestimmt war, an die Wand gehängt zu werden; darauf war ein Schutzengel zu sehen, umrahmt von einer dekorativen Bordüre aus gefälteltem Papier und Glasperlen in einem verglasten Rahmen.
    Diese Proselytenmacherei hatte Erfolg. Hermine nahm in ihrer Schulzeit sehr gern an den Ritualen und Feierlichkeiten der katholischen Kirche teil, besonders an der größten Prozession des Jahres am Fronleichnamstag. Als eine der besten Schülerinnen, deren gute Arbeit und artiges Benehmen durch so viele Fleißzettel belohnt wurden,

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