Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Verbindung gestanden waren. Als Wilhelm 1912 starb, leitete er noch den ungarischen Zweig der Gesellschaft, den er beinahe zwanzig Jahre zuvor begründet hatte. Eine seiner Enkelinnen erinnerte sich, dass er Auer als seinen besten Freund betrachtete. Adolfs Verbindung zu Auer hatte nicht nur viel früher begonnen, sie dauerte auch weit länger, da er 1913, als Moriz das Unternehmen verließ, wieder in den Vorstand der Österreichischen Gasglühlichtgesellschaft eintrat. Als Moriz beinahe alle Anteile am Unternehmen verkaufte, seine Stellung als kaufmännischer Direktor niederlegte und den Vorstand verließ, betrachtete Auer das als Verrat.
Inzwischen ging es wegen der wachsenden Bedeutung der elektrischen Beleuchtung weder der Gasglühlichtgesellschaft noch der Graetzin-Licht-Gesellschaft mehr besonders gut. Nachdem die Glühbirne mit Wolframfaden erfunden und das städtische Stromnetz in den Innenbezirken eingeführt worden war, setzte sich in Wien das elektrische Licht durch. Ein Zeichen dafür war die Beleuchtung, die Moriz und Hermine für ihr eigenes Haus in der Wohllebengasse wählten. In den Räumen, wo die Bediensteten wohnten und arbeiteten, ließen sie Gasbeleuchtung installieren, elektrisches Licht hingegen gab es in der Eingangshalle, in den straßenseitigen Räumen ihrer Wohnung und in den Schlafzimmern der Familie. Obwohl Moriz den Großteil seines Vermögens mit Gasbeleuchtung gemacht hatte, waren die meisten Lampen in der Wohllebengasse elektrisch.
Familie
» GANZ MUTTERSEELENALLEIN.« Es war Februar 1908, Hermine hatte eben im Hofburgtheater eine Dramatisierung von Tolstois »Anna Karenina« gesehen und sie in ihrem Opern-, Theater- und Konzertbuch festgehalten. Die Spalte »Bemerkungen« war zwar für Kommentare zu den jeweiligen Aufführungen vorgesehen, doch Hermine nutzte sie meist, um ihre Begleitung zu notieren. Bei dieser Gelegenheit scheint zum ersten Mal in ihrem Leben niemand dabei gewesen zu sein, und so hielt sie ihren Mangel an Gesellschaft für ebenso erwähnenswert.
Es fällt auf, welch krasses Wort sie dafür benutzte. »Mutterseelenallein«, so beschrieben die Brüder Grimm das siebenjährige Schneewittchen, nachdem es der Jäger in den tiefen Wald mitgenommen und dort allein gelassen hatte, statt es, wie von der bösen Stiefmutter befohlen, zu töten. Durch den Gebrauch dieses Wortes implizierte die 38-jährige Hermine deutlich, dass sie nicht allein ins Theater hatte gehen wollen. Irgendjemand hatte sie im Stich gelassen. Höchstwahrscheinlich hatte man ihr erst im letzten Moment Bescheid gegeben, sodass es keine Gelegenheit gab, andere Gesellschaft zu finden. Sie hätte die Karte verfallen, auf die Aufführung verzichten und zuhause bleiben können. Stattdessen ging sie allein – ein Hinweis auf ihre Unabhängigkeit als moderne Frau und ihre Lust, auszugehen. Doch das Tagebuch lässt vermuten, dass sie sich dabei sehr unwohl fühlte. Möglicherweise genierte sie sich sehr, das renommierteste Wiener Theater allein zu betreten und, noch schlimmer, auch in der Pause für sich zu sein. Ich stelle mir vor, wie sie denkt, alle würden sie ansehen, sich fragen, warum sie ohne Begleitung sei.
Einen Monat und acht Vorstellungen später ging Hermine abends wieder allein aus. Die Attraktion war der polnische Klaviervirtuose Leopold Godowski, der höchstbezahlte Solist Europas Anfang der 1900er Jahre. Seine Konzerte begeisterten Hermine so sehr, dass sie ihn in zwei Jahren sechsmal hörte, öfter als jeden anderen Künstler. Wäre Hermine in Begleitung gewesen, als Godowski im März 1908 im Wiener Musikverein auftrat, hätte sie das Konzert wahrscheinlich als »begeisternd schön« bezeichnet und es mit »Himmelslicht« verglichen haben wie üblich. Stattdessen hielt sie ihren Mangel an Gesellschaft für erwähnenswerter. Wenn sie sich als »ganz allein« beschrieb, dann deutete sie an, dass sie es anders lieber gehabt hätte. Aber die relative Zurückhaltung ihrer Bemerkung deutet an, dass sie sich wohler fühlte als bei »Anna Karenina«. Bald würde sie sich daran gewöhnt haben, allein auszugehen, aber da Familie und Freunde immer verfügbar waren, scheint sie das nie getan zu haben.
Ihre Ehe hätte eigentlich unglücklich sein müssen. Das Standardbild des Wien um die Jahrhundertwende, geprägt vor allem von den Erzählungen und Stücken Arthur Schnitzlers, berichtet von lieblosen Verbindungen, die man vor allem wegen Vermögen und gesellschaftlichem Ansehen einging und die
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