Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Hermine, deren Namen auf einem Sockel unterhalb stehen. Käthe und Lene fanden es also angemessen, ihre Eltern nach 25 Jahren Ehe als Brautpaar darzustellen, das seine junge Liebe genießt.
Wie die meisten wohlhabenden Wienerinnen, die in den 1890er Jahren Kinder zur Welt brachten, beschäftigte Hermine Ammen für ihre Kinder Erni, geboren 1895, Gretl, geboren 1896, und die Zwillinge, geboren 1899. Diese Ammen waren meist unverheiratete Mütter, die, nach einer eingehenden medizinischen Untersuchung, ihre eigenen Kinder im Findelhaus ließen und in der Wohnung ihrer Dienstherren wohnten. Dort unterlagen sie einer strengeren Aufsicht als die übrigen Bediensteten, um das Wohlergehen ihrer Schützlinge nicht zu gefährden, doch wurden sie meist gut bezahlt und gehalten. Von Hermine und dem Säugling Erni gibt es kein einziges Foto, hingegen zeigen die frühesten Bilder von ihm vier verschiedene Ammen. Auf dem aufschlussreichsten ist eine Amme zu sehen, die weder Erni noch die Kamera anblickt, sondern ins Leere schaut; sie wirkt, als würde sie ihre Rolle als Babyständer sehen, nur dazu da, das Kind zu halten.
Erni mit einer seiner Ammen. 1895.
Dieses Foto deutet eine große Distanz nicht nur zwischen Erni und seiner Amme, sondern auch zwischen Erni und Hermine an, und die frühesten Studioaufnahmen von Hermine als junger Mutter widersprechen diesem Eindruck nicht. Grund dafür ist die Inszenierung der Bilder im Wiener Atelier Carl Pietzner, unter dessen zahlreichen wohlhabenden Kundschaften auch Sonja Knips war, das Sujet von Klimts erstem bedeutenden Porträt. Die Fotos von Hermine zeigen, wie Pietzners Atelier sich die Darstellung einer Mutter vorstellte – im Profil, Augen nur für ihre Kinder –, aber sie sagen nichts aus über Hermines Beziehung zu Erni und Gretl.
Ein nach der Geburt Gretls begonnenes Tagebuch Hermines verrät mehr über ihre Rolle als Mutter. Es war eines der vielen Babybücher, die die Verleger Ende des 19. Jahrhunderts für das gehobene Bürgertum herausbrachten. Die 68 Seiten von »Unser Kind« waren in Dutzende verschiedene Spalten unterteilt; es begann mit einer Stammtafel, wo man die Namen und Daten der Vorfahren des Kindes eintragen konnte, und endete mit fünf Seiten für die ersten Schuljahre. Offenkundiger Zweck einer solchen Buchhaltung war es, Kinder wie Gretl mit einem Bericht ihres Lebens zu versorgen, bis sie selber ein Tagebuch führen konnten. Doch das Buch war auch dazu gedacht, Mütter und Väter – beide wurden im Vorwort des Verlegers angesprochen – anzuregen, die Entwicklung ihres Kindes nach wissenschaftlichen Prinzipien zu beobachten. Die Idee stammte von Wilhelm Preyer, einem deutschen Professor der Physiologie, der 1882 das grundlegende Werk über Entwicklungspsychologie veröffentlicht hatte, das auf Beobachtungen an seinem eigenen Sohn aufbaute. Basierend auf Preyers Untersuchung hatte »Unser Kind« Abschnitte, die komischen Begebenheiten, bemerkenswerten Aussprüchen und Zeichen eines guten oder schlechten Charakters gewidmet waren.
Hermine mit Gretl in den Armen und Erni, auf einem Tisch sitzend. 1897.
Manche Frauen behielten diese Bücher jahrelang. Das berühmteste Beispiel ist Martha Arendt, die Mutter der 1906 in Berlin geborenen politischen Philosophin Hannah Arendt. Bis Hannah acht war, benutzte Martha »Unser Kind«, um deren körperliche, emotionale und geistige Entwicklung sowie mancherlei kleine Ereignisse aufzuzeichnen, ebenso wie Hannahs Reaktion auf die einschneidendsten Ereignisse, etwa den Tod ihres Großvaters und ihres Vaters. Hermine notierte viel weniger. Sie verzeichnete nichts Drolliges, das Gretl sagte oder tat, und berichtete nichts von ihrer Gefühlsentwicklung. Ihr Hauptinteresse galt Gretls Wachstum, das sie eineinhalb Jahre lang wöchentlich vermerkte. Sonst hielt sie bloß fest, dass Gretl mit einem halben Jahr ihre erste Puppe erhalten hatte, dass eine neue Amme gekommen war, als das Kind acht Monate alt war, den ersten Brei hatte sie mit elf Monaten bekommen und den ersten Zahn einen Monat später.
Käthe und Lene. 1901. Hermine ließ sich zwar mit Erni und Gretl aufnehmen, als diese noch klein waren, nicht aber mit den Zwillingen.
Eine Reihe von Fotos, wahrscheinlich von Adolf Gallia 1898 in seiner Badener Villa aufgenommen, liefert den zwingendsten Beweis, dass Hermine Freude an ihren Kindern hatte. Auf einem Bild hat sie Erni an der Hand, während sie mit ihm durch den weitläufigen Garten spaziert, auf einem zweiten
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