Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Erdgeschoß, lebten Adolf und Ida in der prächtigsten Wohnung; Adolf hatte dort auch sein Büro, seine Initialen schmückten eines der auf die Straße führenden Tore.
In der einflussreichsten Darstellung des Wien um 1900 hat der Historiker Carl Schorske die These vertreten, nach dem Aufstieg der Christlichsozialen in den 1890er Jahren habe das liberale Wiener Bürgertum sich nicht mehr in der Politik engagiert. Adolf verhielt sich hier ganz anders: Auer und er investierten in
Die Zeit
, früher eine Wochenzeitschrift, ab 1902 eine Tageszeitung, die täglich unabhängige, radikale Kommentare zu sozialen und politischen Fragen brachte. Damit wurde Adolf zur Zielscheibe von Karl Kraus, der mit seiner
Fackel
mehr oder minder dieselben Ziele verfolgte.
Die Zeit
sei durch die finanziellen Interessen ihrer Geldgeber kompromittiert, so lautete Kraus’ Rezept, das Blatt niederzumachen; als Beispiel führte er an, die Zeitung habe nicht berichtet, dass die englische Welsbach-Gesellschaft genötigt gewesen sei, ihr Stammkapital um fünfzig Millionen Kronen zu reduzieren, was für die kleinen Anleger verheerende Folgen gehabt habe. »Der Freiherr Auer v. Welsbach und Herr Dr. Gallia hätten der
Zeit
sicherlich ebenso gern Informationen gegeben«, bemerkte Kraus schneidend, »wie sie ihr, dem Vernehmen nach, eine dritte Million geben.«
Adolfs Verbindung zu Auer brachte auch den beiden anderen Gallia-Brüdern den Aufstieg. Wilhelm, ein Jahr älter als Adolf, hatte in den 1880er Jahren meist als Kaufmann im schlesischen Troppau gearbeitet, Moriz, sechseinhalb Jahre jünger als Adolf, war auf der Suche nach Arbeit nach Wien gezogen und lebte ab 1891 bei ihm. Als Auer beide engagierte, warf der Gasglühstrumpf bereits so enorme Profite ab, dass er leicht fähige Geschäftsleute hätte finden können, um seine Firmen zu leiten. Was Moriz und Wilhelm auszeichnete: Sie waren Adolfs Brüder. 1892 stellte der 33-jährige Auer den 33-jährigen Moriz als kaufmännischen Direktor der Österreichischen Gasglühlichtgesellschaft in Wien ein; ein Jahr später engagierte er den vierzigjährigen Wilhelm als Geschäftsführer der Ungarischen Glühlichtgesellschaft in Budapest, die er erst auf die Beine stellen musste. Bald waren noch zwei weitere Familienmitglieder im Gasbeleuchtungsgeschäft: Moriz beschäftigte zwei von Hermines Brüdern, Otto und Guido Hamburger, die zudem Neffen von Wilhelm, Adolf und Moriz waren.
Moriz war für den Verkauf und Vertrieb der Glühstrümpfe in Österreich und anderen europäischen Ländern zuständig, in denen keine Firma die Auerschen Patentrechte erworben hatte. Sein Hauptabsatzmarkt war jedoch Wien, wo die Nachfrage durch den Bevölkerungszuwachs von 800.000 im Jahr 1890 auf zwei Millionen im Jahr 1910 angekurbelt wurde; dazu kamen eine nie dagewesene Prosperität, die in dieser Periode meist anhielt, sowie Karl Luegers Investition in die neuen städtischen Gaswerke, während die Elektrizität nachhinkte. Ursprünglich war Moriz nur für den Verkaufsraum der Gasglühlichtgesellschaft in der Schleifmühlgasse zuständig gewesen; Ende der 1890er Jahre vertrieb er die Gasglühstrümpfe schon über ein Netzwerk aus 45 Zweigstellen in der ganzen Stadt. 1902 hatte er die Zahl zwar auf sieben reduziert, doch seine firmeninterne Rolle nahm an Bedeutung zu, da Auer im selben Jahr den Firmenvorstand umstrukturierte; 1905 wurde Moriz Vizepräsident. Dazwischen bewarb und verkaufte er auch Auers elektrische Beleuchtungskörper.
Moriz und Hermine nach der Hochzeit in der Wiener Hauptsynagoge. 1893.
Moriz profitierte immens von dieser Geschäftsbeziehung. Seine Anstellung durch Auer 1892 erlaubte es ihm, 1893 Hermine zu heiraten, die eine stattliche Mitgift mitbrachte. Zudem ermöglichte es ihm seine Position, eine geräumige Wohnung oberhalb des Verkaufslokals zu beziehen, möglicherweise mietfrei, da Auer das Gebäude gehörte. Moriz’ Gehalt lag im Jahr 1900 zwischen 35.000 und 40.000 Kronen, nach heutigem Geld etwa 306.000 Euro. Er kaufte Aktien der Gasglühlichtgesellschaft, die üppige Dividenden abwarfen, und wurde selbst ein bedeutender Unternehmer, indem er in verschiedene andere Firmen investierte, während er nach wie vor für Auer tätig war. Er gehörte nun zur »zweiten Gesellschaft« Wiens, der Wirtschafts- und Beamtenelite, die nur von der »ersten Gesellschaft« überstrahlt wurde, den alten Adelsfamilien, die Zutritt zum kaiserlichen Hof hatten.
Eine der ersten großen Investitionen tätigte
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