Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
der Eheschließung zum Protestantismus übergetreten.
Bei meinen Nachforschungen darüber, ob Hermines fortschrittlicher Kunstgeschmack einer ähnlichen Denkweise in Sachen Politik entsprach – wie es bei Adele Bloch-Bauer in den 1920ern der Fall war –, erwies sich Elisabeths politische Einstellung als besonders interessant. Sie war eine der prominentesten Frauenrechtlerinnen und Sozialistinnen der Jahrhundertwende. 1902 wurde sie Mitglied im Vorstand des neu gegründeten Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins, der Dachorganisation österreichischer Frauenverbände. Ein Jahr später gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern des Frauenvereins »Diskutierklub«, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, Frauen politisch aktiver und durchsetzungsfähiger zu machen. Als wichtigste Unterstützerin des Clubs und als dessen Präsidentin leitete sie Zusammenkünfte, bei denen es um freie Erziehung, das geheime Wahlrecht und um weibliche Hygiene ging; außerdem hielt sie Vorträge über »Die Ehe und ihre historische Entwicklung«, »Wert und Kapital« und »Was ist Sozialismus?« Zudem war sie Gründungsmitglied und Förderin des Neuen Wiener Frauenklubs, ein weibliches Reservat mit Speisezimmer, Salon, Leseraum, Spielzimmer und Billardzimmer, wo Vorträge, Kurse, Ausstellungen und Konzerte stattfanden und Frauen zu Themen wie Beruf und Anstellungen beraten wurden.
Auch in der Bewegung für das Frauenstimmrecht war sie engagiert. Als sich 1905 herausstellte, dass Franz Joseph allen österreichischen Männern das Wahlrecht gewähren würde, ohne für die Frauen etwas zu tun, unterwies die Sozialdemokratische Partei ihre Anhängerinnen, nicht gegen diesen Plan zu agitieren, um die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für die Männer nicht zu gefährden; eine kleine Gruppe Frauen, meist aus dem liberalen Lager, war jedoch kämpferischer. Das Österreichische Frauenstimmrechtskomitee, gegründet 1906, war die erste österreichische Organisation, die sich die Durchsetzung des Wahlrechts für Frauen auf die Fahnen geheftet hatte. Obwohl Sozialistin, war Elisabeth nicht nur Mitbegründerin, sondern wurde auch eines der aktivsten Mitglieder und die wichtigste Mäzenin. Bei einer 1913 abgehaltenen, dem Frauenstimmrecht gewidmeten internationalen Frauenkonferenz in Wien war sie unter den führenden österreichischen Delegierten.
Elisabeths politische Einstellung wurde in diesen Jahren zunehmend radikaler. Als sie 1908 im Diskutierklub einen Vortrag hielt, lobte sie nicht nur »unseren lieben Lueger« für seine Investitionen in die neue, in öffentlichem Besitz befindliche städtische Infrastruktur, sondern schrieb auch die Erlangung größerer Arbeiterrechte wie des Zehn-Stunden-Tages dem Sozialismus zu; dessen Sieg blickte sie mit Freude entgegen, er sei der natürliche, unvermeidliche Nachfolger des Liberalismus. Zwei Jahre danach wurde ihr ambitioniertestes schriftliches Werk – eine 444-seitige Geschichte des Sozialismus von den alten Griechen bis zu den Revolutionen von 1848 – vom Verlag der Sozialdemokratischen Partei veröffentlicht, ein deutlicher Hinweis darauf, wem sie sich zugehörig fühlte. Ihr Sohn Richard beschrieb es so: Elisabeth »widmete ihr Lebenswerk der Erlösung der arbeitenden Klassen«.
Dieses politische Engagement ist umso bemerkenswerter, da eine Schlüsselthese von Carl Schorskes Untersuchung zum Wien um 1900 lautet, das Wiener Bürgertum habe sich der Kultur als Surrogat für Politik zugewandt, die außerordentliche Modernität Wiens um die Jahrhundertwende sei also Ergebnis einer apolitischen Einstellung. Die Gönner der Secession und der Wiener Werkstätte werden oft als Hauptbeispiele für dieses Phänomen angeführt. Elisabeth Luzzatto, die die Wiener Werkstätte förderte und Mitglied im Österreichischen Werkbund war, einer ähnlich gearteten Organisation, liefert ein Beispiel dafür, dass einige Persönlichkeiten im Bürgertum, sogar solche, welche die neue Kultur unterstützten, nicht aufgehört hatten, sich mit Politik zu beschäftigen.
Da sie einander so nahestanden, ist es vorstellbar, dass Hermine einen oder mehrere von Elisabeths Vorträgen über Ehe oder Sozialismus besucht hat. Als Elisabeth ihren Vortrag über Ehe 1905 als Privatdruck herausbrachte, wird sie Hermine wohl ein Exemplar geschenkt haben. Vielleicht hat sie das auch nach dem Erscheinen ihrer Geschichte des Sozialismus getan. Wenn die zwei Frauen miteinander ausgingen, wird Elisabeth ihre Aktivitäten besprochen und
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