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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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er ein neues Werk vollendet, dirigierte Mahler üblicherweise die Wiener Uraufführung und bei entsprechender Nachfrage einige Tage später eine neuerliche Aufführung. Hermine und Moriz hatten es nicht eilig, die Konzerte zu besuchen, obwohl sie doch mit Mahler bekannt waren und durchaus Lust auf kontroversielle Kunst hatten. Sie begannen Ende 1905 mit der Wiener Uraufführung der Fünften Symphonie, die von den Wiener Kritikern wie üblich als vulgär, oberflächlich, sentimental, dekadent, überhitzt und rückschrittlich bezeichnet wurde, während das Publikum enthusiastisch reagierte. Anfang 1907 kamen sie wieder zur Wiener Erstaufführung der Sechsten.
    Ende des Jahres war Mahler auf dem Weg nach New York. Ihn lockte das, wie die Metropolitan Opera behauptete, höchste jemals einem Dirigenten gezahlte Honorar, 15.000 Dollar oder 75.000 Kronen für eine dreimonatige Verpflichtung, doppelt so viel wie ein Jahresgehalt an der Hofoper. Auch die mit dem zunehmenden Antisemitismus in der Stadt immer häufiger werdenden Anfeindungen hatten ihn zu diesem Schritt bewogen. Wie Klimt und Hoffmann, die einen offenen Brief zu seiner Verteidigung unterzeichneten, waren wohl auch Hermine und Moriz entrüstet darüber, wie man Mahler in der Hauptstadt der Habsburger behandelte, und bekümmert über seinen Entschluss zum Fortgehen. Bei der Abschiedsaufführung seiner Zweiten Symphonie im Musikverein waren sie anwesend; es wurde eines seiner bewegendsten Konzerte. Arnold Schönberg fand die außerordentliche Wucht und Süße der Symphonie grandios, Alban Berg hielt sie für überwältigend und großartig. Nachdem das Werk im großen Ausbruch des Chores geendet hatte, tobte das Publikum und zwang Mahler, wieder und wieder auf das Podium zurückzukehren. »Herrlich!«, notierte Hermine.
    Hermine und Moriz sahen Mahler nie wieder dirigieren; seine kaiserliche Pension erhielt er nur unter der Bedingung, dass er in Wien weder inszenierte noch dirigierte. Seine Musik aber hörten sie nach wie vor, mit anderen Dirigenten, an erster Stelle Bruno Walter. Nachdem Mahler 1911 mit fünfzig Jahren an Herzversagen gestorben war, besuchten Hermine und Moriz das erste Gedächtniskonzert, gemeinsam mit Theobald Pollak, Erni und Gretl, die von ihrer ersten Begegnung mit Mahlers Musik überwältigt war. Als das Konzert mit der Zweiten Symphonie endete, begann sie zu weinen, was sie – wie viele junge Frauen der Jahrhundertwende – zwar in der Oper und im Theater getan hatte, nie aber im Konzert.
    Am aufwühlendsten war für Gretl das Mahler-Konzert 1915, als Bruno Walter zum zweiten Mal in Wien »Das Lied von der Erde« dirigierte. Gretl war sehr aufgeregt, Walter zu sehen, den sie als »gottbegnadeten Künstler« anhimmelte. Dass Mahlers Witwe Alma und seine einzige überlebende Tochter »Gucki« (Anna) anwesend waren, die eine Loge mit Mahlers Schwester Justine und deren Ehemann, dem Geiger Alfred Rosé, teilten, verstärkte noch Gretls Gefühl, einem außerordentlichen Ereignis beizuwohnen. Sie war erschüttert von der Musik, die ihr wegen ihrer Beziehung zu Theobald Pollak besonders wichtig war. 1914 hatte der Kritiker Richard Specht enthüllt, Pollak habe Mahler die Anthologie mit chinesischen Versen geschenkt, die Mahler in »Das Lied von der Erde« vertont hatte. Gretl wusste, dass Pollak noch mehr getan hatte. So wie Alban Berg an Schönberg berichtete, Pollak sei derjenige gewesen, der Mahler davon überzeugt habe, die chinesischen Gedichte zu vertonen, so schrieb Gretl: »Das Werk ist auf Onkel Baldis Veranlassung entstanden.«
    Ihr Stolz auf Pollaks Rolle war eine Familiensache. Als er bald nach dem Mahler-Konzert an Tuberkulose starb, behauptete Gretl, er sei derjenige gewesen, »den ich nach Eltern, Geschwistern und Großeltern am meisten liebte«; damit stellte sie Pollak vor ihre echten Onkel und Tanten. Sie war außer sich vor Wut, als ihre Eltern sie nicht zum Begräbnis gehen ließen, da sie erwarteten, sie würde sich zu sehr aufregen. »Und wenn auch!«, rief sie; bei Begräbnissen fühlte man eben solchen Schmerz, das wusste sie. Noch erboster war sie, dass ein anderer ihrer Nennonkel, ihr Pate Carl Moll, nicht aus Bologna zum Begräbnis anreiste, obwohl er und Pollak alte Freunde waren und Molls Tochter Maria als eine der Haupterbinnen in Pollaks Testament stand. Gretls Familie und Freunde versuchten sie zu überzeugen, Begräbnisse seien bloß leere Formalitäten, doch sie weigerte sich, sich beschwichtigen zu lassen.

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