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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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als eifrige Missionarin Hermine zu ihren Ansichten zu bekehren versucht haben. Falls die finanzielle Unterstützung Adolf Gallias für die eher links orientierte Zeitung
Die Zeit
als Hinweis auf die politische Einstellung der übrigen Verwandten gesehen werden kann, dann hat Hermine ihr vielleicht mit Sympathie gelauscht. So wie Moriz und Maximilian Luzzatto möglicherweise in Geschäftsbeziehungen standen, mag Hermine einige von Elisabeths politischen Ansichten geteilt haben.

Gala
    WÄHREND EINER REISE in die großen europäischen Hauptstädte gingen Hermine und Moriz jeden Abend aus. Es begann Ende 1902 mit fünf Abenden in London: im Empire, im Hippodrome, Palace, Trocadero und Gaiety. Dann folgten drei Abende in Paris bei den Folies-Dramatiques, in der Oper und in der Comédie Française. Schlusspunkt war Berlin mit fünf Aufführungen an fünf Abenden, doch das reichte ihnen noch nicht: Nach der Rückkehr nach Wien verbrachten sie den ersten Abend im Hofburgtheater, den nächsten bei einer Premiere im Deutschen Volkstheater; nach ein paar Tagen folgte die Hofoper.
    Die Auswahlmöglichkeiten in Wien, das Angebot beinahe jeden Abend waren phantastisch. Es gab so viele besondere Aufführungen und Inszenierungen, dass niemand sie alle sehen konnte. Viele Berichte über das Wien um 1900 gehen von einem beschränkten, ja provinziellen Blickwinkel aus, sie präsentieren, indem sie sich auf das rein Wienerische beschränken, die Stadt bloß als Ort einer lokalen Kultur, doch sie war auch ein imperiales, ja ein Weltzentrum. In den 1890er und bis in die 1900er Jahre zog sie die größten Dirigenten, Sänger, Tänzer, Zirkus- und Varietéstars an. Einige ließen sich in Wien nieder, andere kamen zu Besuch, meist etliche Male und oft für längere Zeit.
    Eine solche Kulturszene war etwas Neues für die beiden Provinzler Hermine und Moriz. Hermines Opern-, Theater- und Konzertbuch zeigt, wie Moriz und sie die neuen Möglichkeiten nutzten. In der ersten Saison, die sie verzeichnete, machte sie dreißig Eintragungen, beginnend mit November 1898, als sie bereits im vierten Monat mit Käthe und Lene schwanger war, bis zum April 1899, vierzehn Tage vor der Geburt der Zwillinge. Üblicherweise verzeichnete sie ungefähr vierzig Vorstellungen pro Saison – oder zwischen einer und zwei pro Woche – von Anfang Oktober, wenn sie aus den alljährlichen Sommerferien zurückkehrte, bis Ende Mai, wenn sie sich wieder auf die Abreise vorbereitete, um der Hitze zu entkommen. Doch Hermine ging weit öfter aus, als sie notierte, da sie in einer Saison so gut wie keine Eintragungen machte und, auch wenn sie das Tagebuch regelmäßiger führte, manche Aufführungen nicht erwähnte.
    Als Gretl sie zu begleiten begann, reservierten sie bereits sehr teure Plätze. »Wir hatten eine Loge ganz neben der Bühne. Es war ein vorzüglicher Platz«, schrieb Gretl nach ihrem ersten Theaterabend 1907 und wurde bald noch ausführlicher, obwohl es wenig Abwechslung gab. Einmal saßen sie in der vordersten Reihe, einmal in der fünften, in der siebten, in der neunten, sonst immer vorne in einer Parterreloge. Gretl nahm es so genau und gab damit wieder, was ihren Eltern ein Anliegen war, weil Oper und Theater die Orte in Wien waren, wo »man« gesehen wurde. Meist gab es zwar eine tiefe Kluft zwischen Mitgliedern von Wiens »zweiter Gesellschaft«, zu der die Gallias zählten, und der »ersten Gesellschaft« der alten Adelsfamilien, doch die besten Logen im Hofburgtheater und in der Hofoper brachten die beiden einander näher als sonst und setzten damit das Großbürgertum und die Aristokratie buchstäblich auf die gleiche Ebene, sodass sie zumindest hier als Gemeinschaft von Gleichen auftraten. Am Ende jeder Vorstellung grüßten die Logenbesucher einander mit einem Kopfneigen.

Hermine, zum Ausgehen gekleidet, mit ihrer besten Perlenkette.
    Ging es einem um die teuersten, exklusivsten Veranstaltungen, dann waren Premieren und Galavorstellungen wichtige Termine. Laut Hermines Konzertbuch besuchten Moriz und sie 1901 ihre erste Premiere; bald waren sie bei so vielen anwesend, dass Hermine sie gar nicht mehr eigens notierte. 1903 verschafften Gustav Mahler und Theobald Pollak Moriz und Hermine das Entree zu einem weit großartigeren Ereignis: einer Gala in der Hofoper zu Ehren des britischen Königs Edward VII. in Anwesenheit Kaiser Franz Josephs. Wie Mahler in einem Brief an Alma berichtete, gab er seine Eintrittskarten Pollak, der sie an Hermine

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