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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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weiterreichte, weshalb die Gallias das Schauspiel aus der Direktionsloge verfolgen konnten. Ein Jahrzehnt später nahmen Hermine und Moriz Erni und Gretl zu einer ähnlich repräsentativen Veranstaltung mit, der Eröffnung des Konzerthauses, wieder unter der Schirmherrschaft Franz Josephs.
    Die Aufführungen, die Hermine und Moriz sich aussuchten, geben einen Hinweis darauf, auf welche Art zwei Mäzene der aufregendsten Wiener Kunst und des neuen Designs sich in anderen Kultursparten engagierten. Man nimmt allgemein an, zwischen dem Geschmack der konservativen und der avantgardistischen Wiener, zwischen dem Publikum des Alten und des Neuen, des Populären und des Hochgestochenen, des Unterhaltenden und des Anspruchsvollen habe es eine tiefe Kluft gegeben. Hermines Tagebuch deutet anderes an. Bei allem Geschmack für das Moderne, ihr Wien war die Stadt von Gustav Mahler und Buffalo Bill, Oscar Wilde und Radakrobaten, Shakespeare und Arthur Schnitzler, »Die lustige Witwe«, Isadora Duncan und Mata Hari.
    Gustav Mahler wird oft mit Gustav Klimt in einem Atemzug genannt. So wie der eine Gustav die bildenden Künste in Wien dominierte, so der andere das Musikleben. Doch bei allen Kontroversen, die Klimt hervorrief, Mahler provozierte eine ganz andere Art von Opposition, Zustimmung und Auseinandersetzung, da in Wien die Musik viel ernster genommen wurde als die bildende Kunst. Klimt war in der Stadt eine öffentliche Person, Mahler hingegen ihre größte Berühmtheit, ein Objekt unaufhörlicher Beobachtung, Kommentare, Karikaturen und Klatsch. Sein internationaler Ruhm, besonders als Dirigent, übertraf Klimts Ruf als Maler bei weitem. Klimt wurde außerhalb Österreichs nur in Italien und Deutschland von Kritikern gepriesen und hatte dort einen Absatzmarkt, während Opernhäuser und Konzertsäle in ganz Europa und Nordamerika sich darum rissen, dass Mahler bei ihnen dirigierte.
    Mahlers Transformation der Wiener Oper war umfassend; er machte aus ihrem Orchester eines der besten in Europa, engagierte Solisten nicht nur wegen ihrer Stimmen, sondern auch wegen ihrer schauspielerischen Fähigkeiten und arbeitete mit Alfred Roller zusammen, einem Mitglied der Secession, um äußerst innovative, atmosphärische Bühnenbilder und Beleuchtungsmöglichkeiten zu schaffen. Hermine und Moriz sahen von Beginn an viele der neuen Produktionen. 1901 waren sie bei der zweiten Aufführung von Alexander Zemlinskys »Es war einmal«. Sie besuchten 1903 die Wiener Premiere von Tschaikowskys »Pique-Dame« und 1907 die Erstaufführung von Puccinis »Madame Butterfly«, bei der Puccini anwesend war. Mahler, der nicht nur Direktor, sondern auch Chefdirigent der Oper war, trafen sie oft, obwohl Hermine seine Funktionen nie erwähnte, so wie auch er sich auf den Plakaten und Programmen der Oper nicht anführen ließ.
    Hermines erstes Erlebnis mit den Wiener Philharmonikern – eine Aufführung von Beethovens Neunter Symphonie im Jahr 1900 – gestaltete sich anders. Mahler hatte sich dafür entschieden, Beethovens Partitur zu überarbeiten, um das nun größere Orchester zu nutzen und Beethovens Absichten »zu verdeutlichen«; etliche Philharmoniker protestierten gegen diese Änderungen und gegen Mahlers pathetische Interpretation. Einige Kritiker warfen ihm vor, er habe Beethovens Werk verzerrt. Die Menge, die sich im Musikvereinssaal drängte, war erregt. Hermines Bericht vom Konzert verrät zunächst nichts von ihrer eigenen Reaktion. Sie war der in Wien nicht unüblichen Ansicht, in einem Tagebuch solle nur das verzeichnet stehen, was geschehen war, nicht, was man dabei gefühlt hatte oder warum man es für wichtig hielt. So vermerkte sie bloß mit Bleistift: »Mahler dirigiert.« Doch dann fügte sie noch mit Tinte hinzu: »fabelhaft«, eine Beschreibung, die sie bis dahin nur verwendet hatte, nachdem sie Sergej Rachmaninoff sein Klavierkonzert Nummer drei hatte spielen hören.
    Bald besuchte sie öfter philharmonische Konzerte, in denen Mahler Beethoven dirigierte. Seine eigene Musik konnte man in Wien zwar hören, allerdings viel seltener, da er unbedingt den Vorwurf vermeiden wollte, er nutze seine Stellung aus, um für sich selbst Werbung zu machen. Außerdem zeigte das Publikum wenig Interesse an seinen Werken; er hatte die Symphonieform zu nie dagewesenem Umfang erweitert, hatte sich vom Romantizismus hin zum Expressionistischen bewegt und sich dann allmählich der Chromatik zugewandt, die schließlich zur Zwölftonmusik führte. Hatte

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