Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
rassistische politische Gruppierungen Wagners Opern zu eigen, und die Zeitschrift
Bayreuther Blätter
wurde ein führendes Organ der Antisemiten.
Am Wiener Jubiläumstheater, das unter der Patronanz Karl Luegers 1898 mit der explizit rassistischen Intention eröffnet worden war, »arische« Autoren und Komponisten durch eine von »jüdischem Einfluss unbefleckte« Gesellschaft zu fördern, lässt sich ablesen, wie Moriz und Hermine auf Antisemitismus auf der Bühne reagierten. Während sie alle anderen bedeutenden Wiener Theater besuchten, gingen sie nie ins Jubiläumstheater, solange es diese Ideologie vertrat; das war gewiss ein Boykott gegen dessen politische Ausrichtung. Wagner aber war für Juden und zum Christentum konvertierte Juden etwas anderes. Der Wiener Musikwissenschaftler Guido Adler war Mitbegründer des Akademischen Wagner-Vereins, der Schöpfer des Zionismus, Theodor Herzl, formulierte seine Gedanken zu einem jüdischen Staat erstmals, nachdem er von einer »Tannhäuser«-Aufführung in Begeisterung versetzt worden war. Mahler machte aus Wien die Stadt, in der man die besten Wagner-Aufführungen zu hören bekam, er setzte die bekanntesten Opern so häufig wie nie zuvor auf den Spielplan und führte sie in voller Länge statt mit den üblichen Streichungen auf. Während die meisten Kritiker Wagners erste Oper »Rienzi« für unbedeutend hielten, erklärte Mahler, sie sei das »größte Musikdrama«, und setzte sie auf das Repertoire der Hofoper. Zudem arbeitete er mit Alfred Roller an innovativen Neuaufführungen, beginnend mit »Tristan und Isolde«; die Inszenierung wurde wegen ihres neuen Opernstils, der bewundernswerten Kombination von Musik, Farbe und Beleuchtung bejubelt. Moriz und Hermine besuchten nicht nur die Premiere von Mahlers »Rienzi« 1901, sondern auch die von »Tristan« 1903.
Wie üblich notierte Hermine nicht, welche Wirkung diese Opern auf sie gehabt hatten. Alma Schindler jedoch verzeichnete etwas von Moriz’ Ansichten, nachdem sie 1901 zum dritten Mal »Die Walküre« gesehen und anschließend gemeinsam zu Abend gegessen hatten. Alma war zunächst von der ganzen »Walküre« überwältigt gewesen und hatte später Teile langweilig gefunden, fühlte sich jedoch nach wie vor vom Finale des ersten und dritten Akts angeregt. Wie üblich war sie sich ihres eigenen Urteils sehr sicher – eine Selbstsicherheit, die aus der Überzeugung erwuchs, sie habe das Potenzial, die erste wichtige Komponistin zu werden. Es passte zu ihrer Einstellung gegenüber den Gallias, dass sie verächtlich notierte, Moriz habe den dritten Akt »reizend« gefunden.
Die einzige Oper, die Moriz und Hermine in Wien nicht sehen konnten, war »Parsifal«; Wagner hatte verfügt, dass sie nur in Bayreuth aufgeführt werden sollte, wo er 1876 die ersten modernen Musikfestspiele begründet hatte. Dieses Monopol, das so lange dauerte, wie die Rechte an »Parsifal« nicht frei waren, war einer der Gründe für den Erfolg der Festspiele, ebenso wie Bayreuths Status als spirituelle Heimat des Wagnerianismus, der Ort, wo man mit dem Meister in Verbindung treten konnte. Die Wagnerianer, die sich dort einfanden, hatten dadurch die gute Gelegenheit, auf diejenigen, die nicht kamen, hinabzuschauen, wie George Bernard Shaw bemerkte. »Ah, Sie hätten das in Bayreuth sehen sollen«, pflegten sie zu sagen. Moriz und Hermine mischten sich 1908 unter diese Verehrer und besuchten wie viele andere Gäste zwei Aufführungen. Sie begannen mit »Parsifal«, immer noch die Originalinszenierung von 1882, und sahen dann »Lohengrin«, die erste Neuproduktion von Wagners Sohn Siegfried, der kurz zuvor Direktor der Festspiele geworden war. Hermine war begeistert von den Aufführungen, die beide die Zustimmung der Kritiker fanden. Sie beschrieb »Parsifal« als die »wundervollste Vorstellung«, »Lohengrin« als die »herrlichste Vorstellung«.
Auch ihren Kindern brachten Hermine und Moriz Wagner bald nahe; Gretl war wie üblich besonders empfänglich. Als sie 1909 als Elfjährige »Rheingold« sah, gefiel es ihr viel besser als Mozarts »Zauberflöte«, die einzige Oper, die sie bereits gesehen hatte, und nach dem ersten »Lohengrin« 1911 war sie verrückt vor Enthusiasmus. »Ich bin ja so leicht begeistert«, bemerkte Gretl, »aber diesmal mit Ursache!« Moriz und Hermine waren der Ansicht, auch in Bayreuth hätte man keine bessere Aufführung zustande bringen können. Noch beeindruckter war sie einige Wochen später, als die
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