Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Familie Hermines 41. Geburtstag mit einem Besuch der »Walküre« beging.
Das intensivste Wagner-Jahr der Familie war 1912. Moriz, Hermine, Erni und Gretl begannen in Wien am Neujahrstag mit den »Meistersingern«; eine Woche später sahen sie noch einmal »Lohengrin«, der Gretl zum Weinen brachte. Dann folgte »Gotterdämmerung«; Gretl war danach so aufgewühlt, dass sie mit sich zu kämpfen hatte, um es aufschreiben zu können. Der Höhepunkt kam im Juli, als die ganze Familie nach Bayreuth fuhr. Obwohl Moriz und Hermine ihre Karten schon Wochen, wenn nicht Monate vorher gekauft hatten, da die Nachfrage die verfügbaren Plätze bei weitem übertraf, brachte Gretl diese Reise mit ihrer Matura in Verbindung, die erst zehn Tage vorher stattgefunden hatte. Sie beschrieb sie als ihre »Maturareise«, eine Belohnung dafür, dass sie die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen hatte; außerdem hatte sie einen Anhänger mit Diamanten und Perlen an einer Platinkette bekommen, den Moriz und Hermine ihr unmittelbar nach dem Zeugnis schenkten.
Hermine und Moriz gestalteten dieses Erlebnis noch eindringlicher, da sie in Nürnberg Station machten, dem Schauplatz der »Meistersinger«, Wagners einziger wichtiger Oper, die an einem konkreten Ort und zu einer konkreten Zeit spielt. Ihr Ziel und der Hauptanlass für ihren Besuch war das Haus des Dichters und Dramatikers Hans Sachs aus dem 16. Jahrhundert, einer der Protagonisten der »Meistersinger«. Dann fuhren sie weiter nach Bayreuth und verliehen dort ihrer Verehrung für Wagner durch einen Besuch der Villa Wahnfried Ausdruck, wo er beigesetzt war. So wie Gretl einen Efeuzweig von Mahlers Grab gepflückt hatte, nahm sie jetzt einen Zypressenzweig von Wagners Grab mit. Als erste Aufführung sahen sie eine Produktion der »Meistersinger« durch Siegfried Wagner, die mehr als je zuvor in germanischen und antisemitischen Kategorien beurteilt und gelobt wurde. Die zweite war eine Inszenierung des »Parsifal«, die Moriz und Hermine bereits gesehen hatten, ihren Kindern aber neu war.
Das 1912 in Bayreuth vom Dirigenten Karl Muck für Gretl signierte Programm.
Als Gretl diese Aufführungen in ihrem Tagebuch notierte, ging es ihr vor allem um die Beschreibung, wie Moriz und Erni etwas zu ihrer Sammlung von Autografen führender Direktoren, Dirigenten, Schauspieler, Sänger und Kritiker beigetragen hatten. Moriz war besonders erfolgreich, er konnte Unterschriften von Siegfried Wagner, dem Dirigenten Hans Richter und Klimts großem Fürsprecher Hermann Bahr ergattern, der über Bayreuth in jenem Jahr schrieb: »Was deutsch ist, hat niemals noch mein Herz so stark und fest gewußt wie hier.« Doch Moriz erlebte auch einen Misserfolg, als er den Dirigenten Karl Muck in einer der Pausen des »Parsifal« um ein Autogramm bat und Muck ablehnte, so etwas tue er nie. Gretl war zwar entsetzt, dass ihr Vater von einem so berühmten Mann eine öffentliche Abfuhr bekommen hatte, dann aber entzückt, als Muck Moriz, nachdem der Zuschauerraum sich beinahe geleert hatte, zu sich rief und ihr Programm signierte.
Dieses Erlebnis hatte Gretl noch im Kopf, als sie nach Wien zurückkehrte und ihre Eltern immer noch öfter zu Wagner-Opern als zu denen anderer Komponisten begleitete. Nachdem sie Verdis »Rigoletto« gesehen hatte, schrieb sie, sie sei eine zu begeisterte Wagnerianerin, um italienische Opern besonders zu schätzen. Obwohl die »Parsifal«-Aufführung, die sie in Bayreuth gesehen hatte, allgemein als matt und leblos bezeichnet worden war, blieb sie ihre Bezugsgröße, nachdem »Parsifal« 1913 rechtefrei geworden war und Opernhäuser in ganz Europa das Stück aufzuführen begannen. Als Hermine und Moriz Gretl in zwei dieser Produktionen mitnahmen, an der Volksoper und an der Hofoper, war Gretl über die erste entsetzt und von der zweiten unbeeindruckt. Nichts konnte sich mit Bayreuth messen.
1902 brachte Isadora Duncan den modernen Tanz nach Wien, sie trat barfuß und ohne Korsett und Trikot auf, in einem äußerst kurzen, durchsichtigen Gewand. Ihre drei Auftritte vor einem kleinen geladenen Publikum schockierten und erregten alle, die die 23-jährige Amerikanerin sahen, schien sie doch »nackt oder beinahe nackt«. Hätten sie es gewollt, dann hätten Hermine und Moriz unter den 150 Männern und Frauen sein können, die die Duncan in der Secession sahen, wo sie von Hermann Bahr vorgestellt wurde. Als Förderer der Secession hätten sie Zutritt zu dem Ereignis gehabt, das um zehn Uhr
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