Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Opernensemble die Oper 1907 endlich dort auf die Bühne brachte, war »Salome« bereits in vielen Städten aufgeführt worden, hatte in manchen das Lob der Kritik geerntet und Zuschauermassen angezogen, war anderswo durchgefallen und an der New Yorker Metropolitan Opera auf Verlangen einer der Töchter des Bankiers J. Pierpont Morgan abgesetzt worden. Das Interesse an »Salome« in Wien war infolgedessen riesig. Karten für die »Sensationspremière«, wie ein Kritiker es nannte, waren beinahe sofort ausverkauft. Im Publikum drängten sich Adelige und Musiker, die Reichen und Berühmten, die Männer in Frack oder Smoking, die Frauen in ihren prachtvollsten Roben. Als sich der Vorhang hob, spürte ein anderer Kritiker eine leicht ungesunde Aufregung im vollbesetzten Zuschauerraum, in dem auch Moriz und Hermine wieder zugegen waren.
Eine weitere Sensation war Mata Hari. Die gebürtige Holländerin hieß eigentlich Margaretha Geertruida Zelle und hatte, nach drei Jahren als Frau eines holländischen Hauptmanns auf Java und Sumatra, eine exotische Identität für sich erfunden. Da sie ihre Geschichten – einmal war sie das in Ostindien geborene Kind europäischer Eltern, halb Inderin, halb Holländerin, ein andermal die Tochter einer indischen oder javanesischen Tempeltänzerin – immer wieder änderte, wurde sie von manchen als Schwindlerin gebrandmarkt. Im Großen und Ganzen aber hielt man sie für eine Orientalin, welche die Mysterien des Brahmanenkults enthüllte; sie spielte die Rolle einer Dienerin Gottes, die ihr ganzes Leben in ihrem Tempel verbracht hatte und sich durch ihren Tanz dem Göttlichen annäherte. Wegen dieser religiösen Komponente wurde Mata Hari auch nicht wegen unzüchtigen Auftretens angeklagt, als sie 1905 ganz Paris Gesprächsstoff lieferte: In einer Aufführung legte sie nach und nach ihre bunten Schleier ab und war schließlich, bis auf juwelenbesetzte Messingschalen über den Brüsten und Reifen an den Handgelenken, Armen und Knöcheln nackt.
1906, sie zählte bereits zu den bestbezahlten Tänzerinnen Europas, trat sie erstmals in Wien auf. Wie Isadora Duncan erschien sie in der Secession vor geladenem Publikum, zu dem diesmal auch Hermine und Moriz sowie ihre Freunde, die Luzzattos, gehörten. Im Mittelpunkt der Bühne stand ein zwischen hohen Vasen platzierter Buddha, dazu ein mit weißen Blüten bedeckter Kirschbaum; bläulichweißes Licht, das an Mondschimmer erinnerte, fiel auf den Boden. Während Mata Hari ihre Kleider ablegte, wurde ihr Tanz immer wilder und wilder, bis sie bis auf die Brustschalen und Reifen nackt war. Während der Kritiker Ludwig Hevesi keinen Zweifel daran hegte, dass die Aufführung große Kunst sei – ein Beispiel des »neuen Tanzes«, den vor allem Isadora Duncan kreiert hatte –, war ihm bewusst, dass dies das Publikum wenig kümmerte. »Inwieweit diese rhythmische Tätigkeit Tanz war, inwieweit sie brahmanisch war, kümmerte die Zuschauer wenig. Sie feierten das Fest der Augen.«
Einen ganz anderen Platz im Wiener Kulturleben nahm die Operette ein. Sie war das beliebteste Musikgenre, das Hauptstandbein diverser Theater und wesentlich für die Identität der Stadt. Doch für viele Angehörige der Elite war das bloß Schmarrn für die Massen. Die einzige Ausnahme bildete »Die Fledermaus« von Johann Strauß Sohn, dem einzigen Komponisten von Unterhaltungsmusik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dessen Werke als ernsthafte Kunst galten. Als Mahler »Die Fledermaus« nach dem Tod des Walzerkönigs 1899 auf das Repertoire der Hofoper setzte, unterstrich er damit ihre Stellung im Kanon. Hermine, die »Die Fledermaus« als Mädchen in Freudenthal kennengelernt hatte, sah sie zusammen mit Moriz in der ersten Spielwoche an der Hofoper, ebenso Anfang 1900 und Ende dieses Jahres die erste Silvesteraufführung.
Keine der neuen Operetten fand so breite Zustimmung, die erfolgreichsten Stücke aber sah fast jeder in der Stadt, zum Beispiel »Die Geisha« des britischen Komponisten Sidney Jones. Jones schlug Kapital aus der Faszination seiner Zeitgenossen für den Osten, und so wurde »Die Geisha« die beliebteste britische Operette der 1890er Jahre, weit mehr noch als »Der Mikado« von Gilbert und Sullivan. Arthur Schnitzler sah sie 1896 in London und besuchte 1897 auch die Aufführung, die das Carl-Theater in Wien auf die Bühne brachte. Hermine und Moriz, die in manchen Saisonen gar keine Operette besuchten, in anderen eine oder zwei, sahen »Die
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