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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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»Moll hasse ich jetzt«, schrieb sie.
    Das Orlik-Porträt mit der Widmung Mahlers an Pollak war eine greifbare Erinnerung an ihre Freundschaft. Es war die Art Gegenstand, von dem sich Pollak zu Lebzeiten niemals würde getrennt haben, Mahler war ihm zu wichtig. Wie andere Verehrer hob Pollak wahrscheinlich alles auf, was er von ihm erhalten hatte, und mochte es noch so belanglos sein. Doch als er kurz vor seinem Tod 1912 sein Testament aufsetzte, verfügte er, dass vier seiner engsten Freunde, an erster Stelle Moriz, Erinnerungsstücke aus seinem Nachlass erhalten sollten; bezeichnenderweise wurde Moriz mit der Auswahl betraut. Höchstwahrscheinlich fragte Moll ihn, was er gerne gehabt hätte, und er wählte das Porträt, da es Pollak viel bedeutet hatte und gleichzeitig die Ehrfurcht der Gallias vor Mahler ausdrückte.
    Gretl sah Mahlers Begräbnisstätte erstmals im Jahr darauf, als Hermine sie zum Grinzinger Friedhof mitnahm, um das Grab von Hermines Schwägerin Henny Hamburger zu besuchen. Mahlers von Josef Hoffmann entworfener Grabstein war so repräsentativ, wie das zeitgenössische Wien ihn nur schaffen konnte, Gretl war aber entsetzt, ihn von Efeu überwuchert zu sehen. Da sie in ihrem Tagebuch zur Erinnerung Pflanzen zu pressen pflegte, nahm sie einen Efeuzweig mit nachhause und legte ihn quer über die Seite, die von diesem Tag berichtete. Von ihren Eltern bekam sie in diesem Juli zum Geburtstag die Partitur vom »Lied von der Erde«. Fünf Jahre später kaufte sie eine Mahler gewidmete Sondernummer der Zeitschrift
Moderne Welt
, in der ein Stich des efeuüberwachsenen Grabsteins zu sehen war; das Titelblatt zeigte das Orlik-Porträt.

Eine Seite aus Gretls drittem Tagebuch, darin das Efeublatt, das sie am 30. März 1916 von Mahlers Grab am Grinzinger Friedhof pflückte.
    Der Lieblingskomponist der Familie war auch der Liebling fast aller anderen: Richard Wagner, dessen Wirkung in Wien quer durch die Klassen, Religionen und politischen Einstellungen reichte. Als Hermine und Moriz Anfang der 1890er Jahre in die Stadt zogen, vierzig Jahre nachdem Wagner als bedeutender Komponist hervorgetreten war und zehn Jahre nach seinem Tod, galt sein Werk immer noch als modern. Ein weiteres Jahrzehnt später waren Wagners Opern bereits Klassiker, Stoff für die Musikgeschichte. Doch die nationale, sogar rassisch geprägte Charakterisierung der Opern als spezifisch deutsch hatte sich nicht geändert. Um die Jahrhundertwende hatten Hermine und Moriz mindestens sechs Opern gesehen und kehrten immer wieder zu ihnen zurück. Sie sahen zwar nie den kompletten »Ring«-Zyklus, doch einmal waren sie bei vier Opern in acht Tagen zugegen. Moriz liebte »Die Meistersinger von Nürnberg«, Wagners zugänglichste Komposition, Hermine und er sahen sie mindestens zehnmal.
    Diese Leidenschaft verlangte von den beiden, dass sie über Wagners virulenten Antisemitismus hinwegsahen, den er nicht nur in privaten Gesprächen und Briefen ausgedrückt, sondern auch in seinen vielgelesenen Essays publik gemacht hatte, zum Beispiel in »Das Judentum in der Musik« und »Was ist deutsch?« Wagner machte die Juden für alles verantwortlich, was in der modernen Welt nicht stimmte, und er bezeichnete sie als Antithese alles dessen, was deutsch war, beschrieb sie als »gänzlich fremdes Element«, welches in das »deutsche Wesen« eingedrungen sei, beschuldigte sie, die deutsche Kunst zu verderben, und verweilte auf dem »unwillkürlichen Widerwillen«, den Deutsche gegen Juden fühlten. Er behauptete auch, die Juden müssten »aufhören, Jude zu sein« und könnten nur durch ihren »Untergang« erlöst werden.
    Wagners Opern wurden so aufgenommen, als würden sie ähnliche politische Absichten ausdrücken, obwohl sie nicht prononciert antisemitisch waren. Als »Die Meistersinger« in Wien ihre Erstaufführung erlebten, protestierten Mitglieder der jüdischen Gemeinde, Wagner habe den Bösewicht der Oper, den Musikkritiker Beckmesser, geschaffen, um sie verächtlich zu machen. Der Theaterdirektor Franz Bittong war der Ansicht, der Antisemitismus reiche in den »Meistersingern« noch tiefer, was ihn dazu bewog, eine Parodie mit dem Titel »Die Meistersinger oder das Judenthum in der Musik« zu verfassen. Gustav Mahler hatte keinen Zweifel, die Gestalt des Zwerges Mime in »Siegfried« sei »die leibhaftige, von Wagner gewollte Persiflage eines Juden«, mit dem »ganzen musikalisch wie textlich vortrefflichen Jargon«. Unterdessen machten sich

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