Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
abends an einem Freitag begann und lange nach Mitternacht endete. Die nächste Gelegenheit ergab sich 1903, als die Duncan im Carl-Theater auftrat; sie kauften Karten für den letzten Abend.
Das Theater besuchten sie beinahe ebenso oft wie die Oper, doch zeigten sie wenig Interesse an den Klassikern. Wegen des Themas Freiheit sollen Schillers Werke besonders den Juden viel bedeutet haben, Hermine und Moriz aber sahen bloß drei seiner Stücke, solange es nur um ihre eigenen Vorlieben ging, und von Shakespeare, der in Österreich eine beinahe ebenso zentrale Bedeutung hatte wie in Großbritannien, noch weniger. Das änderte sich, als Erni und Gretl in die Mittelschule kamen und Hermine und Moriz zu ihrer Bildung beitragen wollten. In den nächsten paar Jahren besuchten sie gemeinsam die meisten Schiller-Stücke und sahen mehrere Shakespeare-Werke. Moriz und Hermine kauften die Gesammelten Werke der beiden Dichter, ein Kartenspiel, das die Schiller-Kenntnisse abprüfte, und für Gretl eine Kinderausgabe der Shakespeare-Stücke. Sie reagierte kritisch: »Ich muss schon sagen, dass ich
unsere
klassischen Stūcke viel schöner finde als die englischen«, bemerkte sie nach »Was ihr wollt«. »Die Gespenster und Schlachten, finde ich, sollten nicht in jedem Trauerspiel von Shakespeare vorkommen«, beschwerte sie sich nach »Richard III.«.
Die besten zeitgenössischen europäischen Dramatiker, etwa Oscar Wilde, George Bernard Shaw, Henrik Ibsen und Arthur Schnitzler, gefielen Hermine und Moriz weitaus besser. Das Werk dieser Schriftsteller befasste sich oft mit der »Frauenfrage«, besonders mit der Dominanz der Männer über die Frauen in der Ehe und mit der Doppelmoral, die für Männer und Frauen bei sexuellen Beziehungen außerhalb der Ehe galten. Hin und wieder kam in diesen Stücken auch die »neue Frau« vor, die in ihren Beziehungen mit Männern Gleichheit sucht, sich oft entschließt, allein zu leben und einer Karriere nachzugehen, und die sich nicht für ihr Interesse an Sexualität geniert. In vielen europäischen Ländern rief solches die Zensur auf den Plan. Da in Wien Hofoper und Hofburgtheater vom Kaiserhaus finanziert wurden, galt hier eine besondere Kontrolle. Ausländische Truppen, die in Privattheatern auftraten, genossen eine größere Freiheit und wurden so das wichtigste Medium, um den Wienerinnen und Wienern umstrittene Stücke und Opern nahezubringen.
Ein Beispiel war Frank Wedekinds »Frühlings Erwachen«, das erste deutsche Stück über jugendliche Sexualität; die vierzehnjährige Wendla wird schwanger (ohne zu verstehen, wie eine Empfängnis zustande kommt), lässt auf Drängen ihrer Mutter eine Abtreibung vornehmen und stirbt an der verpatzten Operation. Wedekind hatte »Frühlings Erwachen« bereits 1891 fertiggestellt, es wurde aber erst 1906 uraufgeführt. Der berühmteste Regisseur Deutschlands, Max Reinhardt, hatte die Genehmigung erhalten, es in Berlin auf die Bühne zu bringen, weil er betonte, sein Ensemble zeige eine »diskrete, von jeder rohen oder allzu drastischen Wirkung freie Darstellung«, und weil das Wort »Geschlechtsverkehr« gestrichen wurde. Nachdem »Frühlings Erwachen« dreihundert Aufführungen in Berlin erlebt hatte, wollten auch andere Theater es unbedingt nachspielen. Die erste Wiener Aufführung brachte Reinhardts Truppe 1907 auf die Bühne, als Hermine und Moriz nicht in Wien waren. Die nächste fand 1908 statt, Reinhardt führte es diesmal im fortschrittlichsten Wiener Theater auf, dem Deutschen Volkstheater; Moriz und Hermine sahen es am dritten Abend.
Richard Strauss’ auf dem gleichnamigen Stück von Oscar Wilde beruhende Oper »Salome« war noch umstrittener. Wäre es nach Gustav Mahler gegangen, hätte die Premiere 1905 an der Hofoper stattgefunden, doch der kaiserliche Zensor verbot die Oper als obszön und blasphemisch. Seiner Ansicht nach waren Salomes Begierde nach dem Kopf Johannes des Täufers, ihr Entzücken über seine toten Augen, seine Haare und Lippen »sittlich verletzend« und ein Beispiel für ihre »perverse Sinnlichkeit«. Als Mahler diese Entscheidung anfocht, verlangte der Zensor, der hebräische Name Johannes des Täufers und alle Anspielungen auf Christus müssten entfernt oder geändert werden. Er wiederholte zudem, dass »Salome« für die kaiserliche Bühne ungeeignet sei, denn sie gehöre »in das Gebiet der Sexualpathologie«.
Der naheliegende alternative Aufführungsort war das Deutsche Volkstheater. Als das Breslauer
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