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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Geisha« 1898, ebenso wie Alma Schindler, der die Sache gut genug gefiel, um sie sich noch einmal anzuschauen.
    Auch eine Reihe von neuen Wiener Operetten gefielen Hermine und Moriz; dass sie dafür eine Vorliebe hatten, lässt Auer von Welsbachs Aufnahme von Moriz vermuten, der ein Lied aus Carl Michael Ziehrers »Landstreichern« singt. Hermine erwähnt sie zwar in ihrem Tagebuch nicht, doch sahen Moriz und sie ziemlich sicher diese Operette, die es auf eine Rekordserie von 1500 Aufführungen brachte. Sie sahen das erste wienerische Sing-Tanz-Schauspiel, Heinrich Reinhardts »Das süße Mädel«, und besuchten Franz Lehárs »Lustige Witwe«, den größten internationalen Musikerfolg des neuen Jahrhunderts, der durch seine musikalische Erfindungskraft und die lebensechten Charaktere die Operette neu definierte. »Die lustige Witwe« war nicht nur musikalisch, sondern auch thematisch modern, besonders in der Behandlung der »Frauenfrage«.
    Hermine und Moriz sahen »Die lustige Witwe« zum ersten Mal 1906, drei Monate nach der Premiere, als der Erfolg nach recht gemischten Kritiken noch zweifelhaft erschien, der Zulauf aber durch Mundpropaganda immer stärker wurde. 1907 kamen sie zusammen mit den Luzzattos zur hundertsten Aufführung, einer Gala mit einer neuen Ouvertüre, die der Komponist selbst dirigierte. Der Andrang im Foyer um sechs Uhr abends war so gewaltig, dass einige in Ohnmacht fielen, an der Bühnentür herrschte ein ähnliches Gedränge von Leuten, die das Ensemble begrüßen wollten. Als Lehár um acht erschien, wurde er mit donnerndem Applaus willkommen geheißen. Während der Aufführung veranlasste der Beifall die Sänger zu immer neuen Dacapos. Nach dem Schluss wurde eine lebensgroße Büste Lehárs auf die Bühne gebracht und mit einem Lorbeerkranz geschmückt, die Bühne verschwand unter einer Flut von Blumen und Sträußen, die aus den Logen geworfen wurden, wo Moriz und Hermine höchstwahrscheinlich ihren Sitz hatten.
    Vom Zirkus fühlten sich die beiden angezogen, sie besuchten ihn mit und ohne Kinder, ein Hinweis darauf, wie sehr sie selbst solche Unterhaltungen liebten. Die spektakulärste war die Wildwestshow des William F. Cody, genannt Buffalo Bill, der Ende der 1880er Jahre seine Tourneen durch Europa begonnen hatte und einen eigenen Zug benötigte, um die 800 Darsteller zu befördern. Als die ganze Familie Codys Truppe bei ihrer letzten Europatournee 1906 im Prater sah, war sein berühmtester weiblicher Star, Annie Oakley, schon lange nicht mehr dabei. Immer noch aber leitete der sechzigjährige Cody jede Show ein, wenn er in Hirschlederhosen auf einem weißen Pferd in die Manege galoppierte und seinen »Congress of Rough Riders of the World« ankündigte.
    In den Wiener Varietés war Exotisches, Erotisches und Außergewöhnliches zu sehen. Als Hermine und Moriz 1900 zum ersten Mal das älteste Wiener Varieté besuchten, das Ronacher, begann der Abend mit der »Excentrique française« Elise de Vere, in Wirklichkeit eine Cockney-Schauspielerin und Sängerin, von der der britische Impresario Charles Cochran behauptete, sie habe die schönsten Beine, die er jemals gesehen habe. Der Abend endete mit dem »phänomenalen Contortionisten« Juno Saimo. Star des Abends war die spanische Tänzerin »La belle Chavita«, deren Vorführungen, wie ein Pariser Kritiker bemerkte, selbst dem heiligen Antonius Blasphemien abgenötigt hätten. Dass Hermine und Moriz nicht mehr wiederkamen, lässt vermuten, dass es ihnen nicht gefallen hatte; binnen weniger Jahre aber waren sie Stammgäste im Ronacher und dessen wichtigstem Konkurrenten, dem Apollosaal.
    Für den deutschen Philosophen Georg Simmel waren solche Etablissements der Beweis, dass das moderne städtische Leben verdumme. Im Publikum befanden sich Männer und Frauen aller Schichten, Simmel zufolge aber bloß Männer aus der Arbeiterklasse, deren Kräfte durch Arbeit völlig aufgezehrt seien. Er behauptete: »Denn die Nerven reagieren auf keine Reize mehr, außer auf diejenigen, [...] auf die der Organismus selbst dann noch antwortet, wenn alle seine Reizbarkeiten abgestumpft sind: die Reize des Lichtes und farbigen Glanzes, die leichte Musik, endlich und hauptsächlich die Anregung der Sexualgefühle.« Sex war zwar wesentlich für diese Schaubühnen, einige ihrer Stars gehörten aber auch zur Avantgarde, an erster Stelle Mata Hari, die nach ihrem Auftritt in der Secession vor einem größeren Publikum im Apollosaal erschien, wo sie weiterhin

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