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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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in der Wohnung, denn wie viele Flüchtlinge behielten Gretl und Kathe beinahe alle Dokumente, die sie mitgebracht hatten. Annes generelle Regel lautete, anschauliche Beispiele aufzuheben. Sie hob eines von Hermines Konzertbüchern auf, ein Wetterbuch und ein Gästebuch. Ähnlich verfuhr sie mit dem Briefwechsel zu den Hoffmann-Räumen in der Wohllebengasse. Alle Briefe zwischen Moriz und Hermine und Hoffmann waren da, dazu alle Kostenvoranschläge, Quittungen und Rechnungen für die Wohnung. Dieses Archiv war auf seine Art ebenso bemerkenswert wie die Möbel, Teppiche, das Silber und Glas, die Keramik, und bot die einmalige Gelegenheit, sämtliche Aspekte eines großen Auftrags an Hoffmann nachzuvollziehen. Anne warf alles weg, außer zwei Briefen von Hoffmann, die sie der National Gallery of Victoria übergab.
    Bei Gretls Tagebüchern fand sie das am schwierigsten. Sie war Gretl zu nahe, um zu erkennen, wie interessant deren großer historischer Bogen war, der sich vom Österreich-Ungarn der Habsburger bis zum Australien des Premierministers Gough Whitlam erstreckte, doch musste sie sich im Klaren gewesen sein, dass diese Tagebücher den umfassendsten Bericht über Moriz’ und Hermines Leben in Wien lieferten. Anne wusste, dass die Tagebücher die einzige Chronik von Gretls Leben und die ausführlichste Darstellung ihrer eigenen Kindheit enthielten. Doch Gretl hatte verfügt, dass die Tagebücher nach ihrem Tod ungelesen vernichtet werden sollten.
    Und so hielt sich Anne mehr oder minder an das, was Gretl gewünscht hatte; sie warf zwanzig, vielleicht dreißig Tagebücher weg, behielt aber fünf davon. Jahrelang hatte ich geglaubt, sie hätte eine Auswahl quer durch Gretls Leben aufgehoben, ein Versuch, repräsentative Beispiele zu bewahren. Doch als ich nach Annes Tod ihren Schrank durchsuchte, fand ich Gretls erste drei Tagebücher und die letzten zwei. Ich weiß, dass Anne die dazwischenliegenden weggeworfen hatte, da Gretl sich für manche ihrer Handlungen in dieser Phase geschämt hatte und Anne diese Empfindlichkeit respektieren wollte. Ich vermute, Anne hatte es auch getan, weil sie nicht herausfinden wollte, wie Gretl sie selbst sah. Annes eigene Ambivalenz, ihr Leben betreffend, war so ausgeprägt, dass sie solche Zeugnisse gerne vernichtete.
    Die Übersetzung von Gretls ersten drei Tagebüchern war eine meiner Prioritäten, als ich dieses Buch in Angriff nahm. Da mein Vater Eric oft Gretls Handschrift entziffern konnte, wenn es mir nicht gelang, und sein Deutsch viel besser war als meines, bat ich ihn um Hilfe. Es war eine Arbeit, die Wochen, Monate in Anspruch nahm, während ich zwischen meinem Zuhause in Canberra und seinem in Sydney hin und her pendelte. Wir pflegten an Erics Esszimmertisch zu sitzen, während er laut übersetzte und ich niederschrieb, was er sagte. Gelegentlich bat ich ihn, die Bedeutung eines Wortes oder einer Passage zu erklären, oder wir sprachen über das, was er eben übersetzt hatte. Ab und zu gingen wir spazieren oder saßen in der Sonne. Im Großen und Ganzen waren wir fleißig, begannen manchmal vor dem Frühstück und machten nach dem Abendessen noch weiter. Oft war er noch vor mir bereit, anzufangen, und scharf darauf, fortzusetzen, wenn ich gern aufgehört hätte. Es war eine umso befriedigendere Erfahrung, als ich in den vierzig Jahren, seit er und Anne sich getrennt hatten, noch nie so viel Zeit mit Eric verbracht hatte. Diese Übersetzung war das Intimste, das er und ich jemals gemeinsam unternommen hatten.
    Dass Gretl diese Tagebücher geschrieben hatte, war umso bedeutungsvoller für mich, weil sie ein so wichtiger Teil meiner Kindheit gewesen war und meine Erinnerungen an sie so positiv waren. Doch trotz allem, an das ich mich aus der Zeit erinnerte, als sie auf mich, ein Kind, aufgepasst hatte, wusste ich sehr wenig über ihr Leben. Ich hatte keine Ahnung, in welcher Beziehung die alte Frau, die ich in Sydney kannte, zu dem Mädchen stand, das in Wien aufgewachsen war. Als ich ihre Tagebücher las, wurden die Kontinuitäten sofort deutlich. Die Leidenschaft und der Stolz, die ich als Junge in Sydney beobachtet hatte, waren auch in Wien bei ihr schon ausgeprägt gewesen. So wie Gretl es Mitte der sechziger Jahre schwer gefunden hatte zu verzeihen, wenn sie das Gefühl hatte, man habe sie beleidigt oder übergangen, so war es fünfzig Jahre zuvor gewesen.
    Meine einzigen Zweifel, während ich mich zusammen mit Eric durch die Tagebücher arbeitete, wurden durch seine

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